Wie weit ist es nach Afrika? Die „ungeschriebene Geschichte“ schriftloser Kulturen im Spiegel der Forschungsgeschichte am Beispiel der rock art zwischen Europa und dem südlichen Afrika. (Teil 2 von 3)

Teil 1 lesen Sie hier.

 

Die "Weiße Dame" wird auf die Bühne gebeten

Am 4. Januar 1918 entdeckte der Landvermesser Reinhold Maack in einer Grotte der Tsisab-Schlucht einen Bilderfries. In seinem Feldbuch legte er eine Skizze des zentralen Motivs an, denn es handelte sich für ihn um "die schönste Felsmalerei des paläolithischen Kulturkreises" (gronemeyer & lamparter 1993, 22). Die Entdeckungsgeschichte gilt heute als Klassiker der namibischen Felsbildforschung (kinahan 1995, 9). Hugo Obermaier und Herbert Kühn nahmen die Bilder aus der heute nach dem Entdecker Maack-Grotte benannte Abri in ihre 1930 erschienene Veröffentlichung auf. Obermaier und Breuil hatten bereits an verschiedenen Projekten gemeinsam gearbeitet, so auch 1909 in der nordspanischen Höhle von Balle bei Gibaja, Provinz Santander (obermaier 1912, 221). Beide galten als ausgewiesene Fachleute, waren über Jahrzehnte eng befreundet (bandi & beltrán-martinez 1987, 7-12) und in die Auseinandersetzungen um Urheberschaft und Echtheit der "Eiszeitkunst" in Europa involviert (gronemeyer & lamparter 1993, 24). Uneinigkeit bestand jedoch in Bezug auf das Geschlecht der Zentralfigur im Bilderfries. "Hugo Obermaier, led astray by Maack´s bad drawings inverted the sex of the two chief figures in the procession." (breuil 1948, 7). Zur Geschlechtsbestimmung „weiblich" kam die durch Breuil zentral gesehene Position im Bildfries mit Erhöhung als "Dame/Lady" und, noch vor allen Interpretationen, die Benennung "Weiß". Eine dunkle Gestaltung des Oberkörpers und helle Ausmalung unterhalb der Taille wird in allen Reproduktionen deutlich, die Hände erscheinen jedoch in einigen Reproduktionen hell, in anderen dunkel.

1929 wurde Breuil bei einer Reise nach Johannesburg auf eine kurz nach der Entdeckung angefertigte "water color copy" nach Vorlage aus dem Feldskizzenbuch von Maack aufmerksam (barnard 2007, 49). Ebenfalls im Jahr 1929 besuchte Maria Weyersberg die "Maack-Grotte" und fertigte Kopien von Ausschnitten des Bilderfrieses an, die Originalzeichnungen sind nicht erhalten (wissel 2016, 1). Diese Arbeiten hielt Breuil für "very superior to the former copies" (breuil 1948, 4). In der Veröffentlichung Matsimu Dsangara von Leo Frobenius wurde 1931 eine Reproduktion abgedruckt, die Breuil nicht für gelungen hielt. Im Jahr 1937 waren die Zeichnungen von Weyersberg im Rahmen einer Ausstellung im MoMa, New York, zu sehen (wissel 2016, 1). In einem "Punkt" unterscheiden sich die Kopien von Weyersberg und Breuil deutlich von den Arbeiten von Maack und den sehr viel neueren Kopien von Pager. Während die erste Skizze aus dem Jahr 1918 an der Figur einen Penis mit Infibulation erkennen lässt, zeigen Weyersberg und Breuil dieses Detail nicht. Für Breuil gab es, außer dem fehlenden Penis, noch einen weiteren Hinweis auf das Geschlecht der abgebildeten Person: "'It seems to me that, though her breasts are more marked the those of the person following her, there can be no doubt about the sex of the "white Lady'". (breuil 1948, 4).

Durch Alice Bowler-Kelly erhielt Breuil 1937 die ersten von E. Scherz angefertigten Fotos, konnte jedoch erst 1942 seine Interpretationen anhand von Arbeitsvergrößerungen beginnen (barnard 2007, 49). Mit Vermittlung des südamerikanischen Premierministers und Feldmarschalls Jan Smuts konnten Breuil und Assistentin Mary Boyle (1881-1974) nach durch den Weltkrieg bedingten Verzögerungen 1947 den Bildfries vor Ort ansehen. Weitere Expeditionen folgten 1948 und 1950. Breuils Autorität stand zu diesem Zeitpunkt außer Frage, seine Position als Präsident der South African Archaeological Society verstärkte seinen Einfluss (brunner 2016, 10). Am 28. Januar 1930 hielt Weyersberg einen Vortrag in Windhoek und verhalf der "Weißen Dame" zu einem ersten öffentlichen Auftritt. Sie sah "Anlehnung an ägyptisch-assyrische Haartracht, Schmuck und sonstige Attribute" und zudem erkannte sie die Urheberschaft indigener Bevölkerung für die Bildwerke ab. Für sie war die Ausführung nicht "in Einklang zu bringen mit der Mentalität des Buschmanns" (wissel 2016, 1). Mit diesen Deutungen stand sie nicht allein, denn auch Maack und Frobenius sahen einen ägyptisch-mediterranen, bzw. mesopotamischen Ursprung. Breuil kam beim Betrachten der vergrößerten Fotoabzüge der für seine weiteren Interpretationen ausschlaggebende Gedanke: "It was than I saw the lady´s face was mediterranian." (breuil 1948, 4). Als er den Bildfries vor Ort gesehen hatte, traf er folgende Zuordnung: "The racial types are mixed; six are certainly not natives, but Europeans or Mediterraneans, themselves of mixed types; several are fair, others olive or even darker skinned." (breuil 1948, 8). Neben dieser Zuordnung sah er "the ladys costume is obviously cretan (...)" (breuil 1948, 9) und brachte zudem die Bewaffnung mit Pfeilen und Bogen mit "Diana-Isis" in Verbindung. Seine Interpretation der ganzen Szene war: "a ship´s company of foreigners" mit einer "company negro helpers, also foreign" (breuil 1948, 9). Boyle stellte "some elaborate research" an und kam ebenfalls zu dem Schluss, dass mediterrane Einflüsse nachweisbar wären (breuil 1948, 9). "Her face is clearly of the best Mediterranian typ with a straight nose. Mis Boyle has suggested that this women maybe Isis-Diane in the Lesser Mystery of Egypt (...)." (breuil 1955, 21). Mary Boyle hielt Vorträge und verfasste Artikel (Brunner 2016, 11). Auch wenn Breuil/Boyle im Gegensatz zu Frobenius/Weyersberg Ägypten oder den Mittelmeerraum und nicht Mesopotamien ins Zentrum ihrer Interpretationen stellten, bleibt festzuhalten, dass eine Urheberschaft der Buschmänner/San abgesprochen wurde. Breuil baute ein ganzes Theoriekonstrukt auf der Negierung von Kunstleistungen seitens der Buschmen/San auf. Trotz fehlender Datierungsmöglichkeiten für die rock art postulierte er die für ihn qualitätvolleren Bilder als älter und traf Unterscheidungen. "The very remarkable art was preceded, accompanied and followed by other spimpler styles of painting which I think to be Buschman in origin." (breuil 1955, 14). Er führte "Rassezuordnungen" und seine Postulierung einer "Reisegesellschaft" von 1948 in seiner Veröffentlichung von 1955 zusammen. "The study of this paintings in the Maack shelter makes it clear that no country alone influenced and inspired it, and that more than one race is represented in the procession. Certainly, no primitive, uncultured people would depict such ceremonies or give such a central position to a women." (breuil 1955, 12). Und letztendlich gipfelte Breuils Interpretation in ein rassentheoretisches Untergangszenario. "From the paintings, it would seem that the higher human type was gradually eliminated by toll much crossing with colored races (as occurred in Ethiopia), so that the white elements, which are already mixed before they arrived in Southern Africa, gradually disappeared." (breuil 1955, 15.)

Es finden sich in den Argumentationen eine ganze Reihe Ansätze vereint, die jenseits der prähistorischen Archäologie und des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts Verbreitung fanden: "Rassekundliche Einschätzungen", "Wanderungsnarrative" und letztendlich der Nachklang "phönizischer Wanderungen und Kolonien". Die Deutungen wirkten auch über Entgegnungen und fachliche Einwände (kinahan 1995, 10) weiter. Bildwirkung und Bildassoziationen sind an den kulturellen Kontext des Betrachters gebunden – ein Allgemeinplatz. Jedoch auch Anregung mit einem Abstand von einigen Jahrzehnten, die zwangsläufigen Folgen "klassischer" Bildung neu zu beleuchten. 1993 waren für Gronemeyer und Lamparter "verblüffende Ähnlichkeiten zwischen der ‚White Lady' und dem mediterranen Kulturraum nicht zu leugnen", ohne dass dafür Anhaltspunkte angeführt werden mussten (24). Auch wenn der indigenen Bevölkerung die Urheberschaft durchaus zuerkannt wird, bleibt das Bildprogramm vor Augen ein "Europäisch-Klassisches".

 

Wessen Vorfahren waren die wilderen Barbaren?

Die Rückwärtsgewandtheit Afrikas ist nach Holl zentraler Angelpunkt des Kolonialismus. Archäologische Funde und Befunde hatten jedoch immer das Potenzial, diese Sichtweise in Frage zu stellen (1990, 299-300). Das soziale Milieu der Fachleute und Laien in (Süd-)Afrika war sehr begrenzt, sodass Interpretationen der Funde und Befunde in das Konzept weißer Überlegenheit eingepasst wurden (holl 1990, 301). Eine wichtige Rolle als theoretisches Konzept hinter diesen Interpretationen wird der kulturhistorischen Anthropologie von Ratzel zugeschrieben (trigger 1990, 311). "Völkerwanderung heißt das große Schwungrad aller Geschichte – sie schafft die großen Abschnitte, in welche die Entwicklung der Menschheit zerfällt, denn sie wandelt deren Grundlage, nämlich das innere Wesen der Völker selbst um." (ratzel 1874, 18). Migration als Motor der Entwicklung zu sehen findet auch unter britischen Prähistorikern weite Verbreitung, wobei die Menschen in Afrika als "helpless recipients of successive waves of innovation from Europe" (deacon 1990, 46) gesehen werden. Ratzel fíndet als Begründung, "daß das Negerhirn im Ganzen kleiner ist und auf niedrigerer Entwicklung steht als das der europäischen Culturvölker." (ratzel 1874, 49).

Mit Childe als Prähistoriker ist nicht nur die Beschreibung kultureller Abfolgen und Wechselbeziehungen verbunden. Er modifizierte Erklärungsansätze aus dem 19. Jahrhundert, nach denen sich Kulturentwicklungen und damit ihre Attribute (Steinarchitektur, Metallbearbeitung etc.) durch Handel und Wanderbewegungen von Menschen vom Vorderen Orient her ausgebreitet hätten (renfrew & bahn, 2009, 25). Theorien hamitischer Wanderungen (Hamitic theory) wurden in prähistorischer Forschung, Völkerkunde und Linguistik (olderogge 1981, 273) aufgegriffen und gründen in biblischen Vorstellungen von Ham als dem verstoßenen Sohn Noahs. Die Folge war eine Vorstellungskonstruktion, die "dem afrikanischen Menschen keinerlei Kultur- und Geschichtsleistung zuschreiben wollte." (rohrbacher 2002, 9). Auf Grundlage dieser Ideen nahm von Luschan an, "daß die sogenannte ‚Buschmannskunst' ursprünglich aus Nordafrika stammt, mit der Altamirakunst und irgendwie vielleicht auch mit der ältesten Kunst Ägyptens zusammenhängt und im Laufe der Jahrtausende mit den Hamiten bis nach Südafrika gelangt ist." (von luschan 1922, 83-84). Diffusionistische Deutungsprinzipien galten jedoch nicht nur für Afrika, sondern auch für Europa. Unter dem Schlagwort ex oriente lux fanden Theorien der Kulturverbreitung vom Orient aus eine breite Anhängerschaft und gingen in die Bewertung vor- und frühgeschichtlicher Verhältnisse ein (wiwjorra 2006, 80-84). Personifiziert als Vertreter der "aufgeklärten" Völker wurden vor allem die Phönizier (auch Phönicier/Phönikier) in Dienst genommen. Das West- und Ostjordanland und Nordsyrien wurde in der 2. Hälfte es 19. Jahrhunderts als das "eigentliche Phönizien" (obermaier 1912, 171) gesehen. Von dort aus gelangten frühe Kaufleute wie Sven Nilsson bis nach Skandinavien, wo sie Kolonien gründeten: "Nachdem wir nun die Überzeugung gewonnen, daß die Phönicier selbst in Schonen lange Zeit gewohnt und gehandelt haben, so dürfen wir die Frage aufwerfen, auf welche Art dieser Handel hier im Norden getrieben wurde (...). Der Handel mit den Wilden musste daher wie zu allen Zeiten Tauschhandel sein, der Art, daß Ware gegen Ware getauscht wurde" (nilsson 1865, 37). Die rock art in Skandinavien deutete er, am Beispiel der Fundorte Kivik und Wellfara, als Hinterlassenschaften des "phönicischen Baalsdienstes" (1865, 41-44) und kommt zum Schluss: "Daher habe ich mir niemals vorstellen können, daß die genannten Wilden schon solche Kunstwerke produzierten" (nilsson 1865, 50), wobei er rock art und Metallgegenstände zusammenfasste. Neben der prähistorischen Archäologie war die Nordische Archäologie (müller 1897, 227) oder scandinavian archaeology (trigger 1990, 80 ff.) im ausgehenden 19. Jahrhundert einflussreich. Deren Vertreter wandten sich gegen die Vorstellung des "Barbarenklischees", passten aber unter der Vorgabe des "Schülers, der den Meister übertrifft" die Idee des ex oriente lux in die nationale Identität ein (wiwjorra 2006, 83-84). Nilssons phönizische Kolonien wurden jedoch diskutiert und letztendlich in der führenden Meinungsbildung abgelehnt: "Diese Hypothese hat im Kreise der nordischen Archäologen niemals Anhänger gewonnen und konnte schon längst für vollständig verfehlt erklärt werden." (müller 1897, 227).

Der ex oriente lux-Gedanke behielt noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, von bildungsbürgerlichen Kreisen getragen, auf Europa bezogen Gültigkeit und prägte das Verhältnis zwischen klassischer Archäologie und vor- und frühgeschichtlicher Forschung, letztendlich im Nachklang bis heute. Mutmaßliche Phönizier als Kolonisten und Kulturbringer auf der einen Seite, "Wilde" auf der anderen Seite finden sich für das Nordeuropa der Vorgeschichte und Afrika analog beschrieben. Während jedoch den weißen Europäern alle Möglichkeiten offen standen, die eine positivistische Weltsicht zu bieten hatte, verhielt es sich in Afrika anders. In Bezug auf die Menschen dort schob bereits Ratzel "biologische" Argumente auf das Diskussionsfeld. Rohrbacher bringt diese Verbindung von Rassentheorie und Migrationstheorie 2002 wie folgt auf den Punkt: "Daraus wird bereits deutlich, dass die darwinistisch konzipierte Hamitentheorie zunächst die kolonialpolitische Funktion erfüllte, den vermeintlich dunklen und geschichtslosen Kontinent in einen geschichtsträchtigen Boden mit entsprechender zivilisatorischer Unterlage umzuwandeln." (2002, 92).

 

Sylvia Crumbach, M.A.

 

Fortzsetzung: Teil 3.

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