Wie weit ist es nach Afrika? Die „ungeschriebene Geschichte“ schriftloser Kulturen im Spiegel der Forschungsgeschichte am Beispiel der rock art zwischen Europa und dem südlichen Afrika. (Teil 1 von 3)
"Man hat in den letzten Jahrzehnten viel über den Ursprung und die Psychologie der primitiven Kunst geschrieben und fast ebenso zahlreich, wie die Arbeiten. sind die Meinungen, die hierüber ausgesprochen wurden." (Obermaier 1912, 223)
Ein Bild von der Vergangenheit schaffen ist eins der zentralen Anliegen wissenschaftlicher Forschung und eine Kernkompetenz der musealen Vermittlung von Geschichte. Wie alle Bilder sind diese Wissenschaftserzeugnisse einprägsam und langlebig, können neue Bedeutungen erlangen und als Archivmaterial letzte Zeugnisse zerstörter Kulturgüter sein. Vor diesem Hintergrund wird Forschungsgeschichte zu mehr als einem Friedhof toter Ideen. Folgt man der Assmannschen Theorie, bevorratet das Speichergedächtnis beinahe alle Produkte der modernen Wissenschaften und ihrer Rezeption seit Konsolidierung und Herausbildung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Viele dieser Interpretationen können virulent werden und/oder führen in gewisser Weise als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ein Geisterdasein in populärer Darstellung von Geschichte. Dies gilt in besonderem Maße für schriftlose und entlegene Kulturen. Archäologische, anthropologische und ethnographische Forschung waren im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert eng miteinander verbunden. Es zeigen sich Ansätze interdisziplinärer Arbeit, in vielen Fällen sind die Fragestellungen an das Material in den Werdegängen der Protagonisten determiniert.
Im Focus dieses Beitrags steht Fragen nach analogen Sichtweisen auf die Geschichte vorwiegend schriftloser Kulturen in Gebieten mit großem räumlichem Abstand zu den als "Zentren der Kulturentwicklung" verstandenen Gebieten im Vorderen Orient, Ägypten und dem Mittelmeerraum. Unter völlig anderen Vorzeichen als heute galt rock art den Vertretern der scandinavian style archaeology und der paleolithic archaeology (Trigger 1984, 155 ff.) um die Wende zum 20. Jahrhundert als Produkt der zur Entstehungszeit ansässigen Kulturgruppen. Es lassen sich einige Parallelen in der Erschließung des Kunstschaffens schriftloser Kulturen in Nordeuropa und Afrika aufzeigen, die in Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen einen kritischen Blick verdienen. Die Deutungen des Materials sind einem starken Wandel unterworfen, der in der Rückschau gesellschaftliche und politische Verhältnisse spiegelt. Als Schlüsselbegriff fungieren mutmaßliche Phönikier (Phönizier), Minoer oder Hemithen. Vom Orient ausgehend, als ex oriente lux, lässt sich die Blaupause dieser "Kulturbringer" sowohl über die "Nordische Bronzezeit" als auch am Beispiel der "weißen Dame vom Brandberg" über die rock art in Namibia legen. Während jedoch der Norden im Licht besonderer "Kulturhöhe" zu strahlen verpflichtet wurde, blieb die Zeitspanne zwischen Paläontologie und Ausdeutung der "Lost Kingdoms of Africa" (Casely-Hayford 2010, Vorwort) im Dunkeln über die zudem ein Einzelbild als Gespenst aus der Forschungsgeschichte lauert.
Sicht auf Felsbilder vor der "weißen Dame": Urheberschaft und "Wahrheit der Darstellung"
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Zuerkennung der Urheberschaft für die rock art nicht analog zur Anerkennung als kulturelle Leistung, oder der Fähigkeiten dazu, gesehen werden muss. Für Friedrich Ratzel war Afrika noch überwiegend terra incognita. Er hielt die außereuropäischen Länder jedoch für "sehr reich an den wichtigsten Altertümern menschlicher Vorgeschichte" (Ratzel 1874, 17). Für ihn war "Europa erst spät eine Wohnstätte des Menschen geworden, Asien und Afrika hierin um ein Großes vorangegangen" (Ratzel 1874, 50). Zeugnisse schriftloser Gemeinschaften, in Vorgeschichte und gegenwärtiger Lebenswirklichkeit, als Ausdruck von Kultur erfasst, wurden auch in den sich herausbildenden Wissenschaften nur eingeschränkt als Kulturleistungen wahrgenommen.
1906 schrieb Michael Haberlandt als Kustos der ethnographischen Sammlung des naturhistorischen Hofmuseums und Privatdozent an der Universität Wien in seiner "Völkerkunde": "Der schwarze Erdteil mit seiner Negerkultur (...), dessen rohe und im Verhältnis zu der Flächenausdehnung so ungünstigen Küstengliederung in gewissem Sinn allein die niedrige Stufe seiner Bewohner erklärt" (Haberlandt 1906, 169) in kolonialer Gesinnung und im Geist seiner Zeit. Maßstab war für ihn auf dem Weg zu "höheren, zur Geschichtlichkeit empor führenden Leistungen" die Herausbildung einer eigenen Schriftkultur (Haberlandt 1906, 170). Buschmänner/San hätten, so stellt er fest, "nur in ihren merkwürdigen Felszeichnungen, wie sie sich im ganzen Verbreitungsgebiet der Buschmänner in überraschender Zahl und Wahrheit der Darstellung finden, ein auffallendes Merkmal höherer Begabung hinterlassen." (Haberlandt 1906, 173). Festgehalten werden sollen zwei Punkte. Zum einen die Kopplung von Geschichtlichkeit und Schrift, zum anderen die, trotz niedriger Stufe, zugestandene Urheberschaft und Qualität der rock art. Karl Weule machte als Direktor des Museums für Völkerkunde und Professor an der Universität Leipzig die Buschmänner als Urheber der rock art aus. Sein "Hinweis auf die Kunstausübung dieses merkwürdigen Völkchens, das die Höhlen und Nischenwände Südafrikas mit Tausenden von Tier- und Menschenbildern in einer Weise bemalt hat, die mit dem sonst so niedrigen Kulturstande der Künstler lange Zeit völlig unvereinbar schien." (Weule 1912, 33). Er begründete die Annahme mit ausgereifter Technik, Anpassung von Jagdwaffen und "Lebensfürsorge" der Buschmänner/San. Weule wies darauf hin, dass die Beobachtungen der Volkskundler/Ethnographen einen zentralen Beitrag zur Entschlüsselung der Vorgeschichte in Europa zu leisten im Stande sein könnten (Weule 1912, 37-38).
Für Hugo Obermaier als Professor am internationalen "Institut de Paléontologie Humaine" in Paris hatten ethnographische Beobachtungen und Gegenstände aus organischem Material das Potenzial, die Ergebnisse der Urgeschichtsforschung als "Spatenwissenschaft" (Obermaier 1912, 225) zu ergänzen. "Ihre Habe, ihre Waffen und Werkzeuge offenbaren eine verblüffende Identität, speziell ihr Kunstsinn, zeigt unverkennbar gleiche Richtungsbahnen (...)" (Obermaier 1912, 223). Zugleich schränkt er die Erkenntnismöglichkeiten ein, denn "nur zu häufig hat man vergessen, daß Buschmann und Australier nicht als unmittelbare, wirkliche Naturkinder gelten können, daß sie schon sehr komplizierte Naturen darstellen (...)" (Obermaier 1912, 223). Er lehnte ab, "kritiklos den Höhlenmenschen des Eiszeitalters die Gedankengänge und das Geistesleben eines modernen Feuerländers oder Papuanegers" (Obermaier 1912, 223) unterzuschieben. In Bezug auf die "industriellen Übereinstimmungen" stellte Obermaiermit Bezug auf Cartailhac und Breuile fest, dass "der menschliche Geist unter analogen Existenzbedingungen stets analoge Werkzeuge ausfindig zu machen wisse, ohne daß es deshalb irgendwie gestattet wäre, an ‚Völkerverwandschaften' im Vollsinne des Wortes zu glauben." (Obermaier 1912, 254). Obermaier weist sich damit als Vertreter der paläolithischen Archäologie aus. Diese hauptsächlich in Frankreich und England zu verortende Schule war eng mit der Geologie und Paläontologie verbunden. Die öffentliche und wissenschaftliche Wertschätzung war an die Möglichkeit gekoppelt, den Fortschritt der Entwicklung seit der Frühgeschichte abzubilden (Trigger 1984, 101). Mit der Entwicklung von Stratigraphie- und Datierungsmethoden auf der Suche nach dem Ursprung der Menschheit waren Konfrontationen mit Gegnern der Evolutionstheorie unvermeidlich (Trigger 1984, 102-103).
Mit Bezugnahme zur "quartären" Kunst in Europa behandelt Obermaier die rock art in Südafrika als Kunstausdruck der dort indigenen Bevölkerung, als "Buschmannmalereien", die er zwei verschiedenen Gruppen zuschreibt (Obermaier 1912, 256). Anders als Haberlandt und Weule führt er mit Bezugnahme auf die Arbeiten anderer Wissenschaftler Erklärungsversuche aus der Lebenswirklichkeit der Künstler für die Inhalte der rock art an: Jagd- und Kriegsszenen und religiöse Zwecke (Obermaier 1912, 256-258). Als "Gipfelpunkt von Naturwahrheit und Stilgefühl" stellt er den Bildfries mit Straußenjagd (Herschel-District, Kapkolonie) heraus. Die Deutung dieses Bildes ermöglichten Schilderungen von seinerzeit gegenwärtigen Jagdmethoden (Obermaier 1912, 257). Auch Felix von Luschan griff die Straußenjagd als "wohl schönste und bekannteste Buschmannmalerei" (von Luschan 1908, 682) auf, Weule brachte das Bild auf die Umschlagseite der Veröffentlichung "Die Kultur der Kulturlosen". In den Jahren um 1900 gelangten Kopien von rock art in südafrikanische Museen, Expeditionen erschlossen und dokumentierten neue Fundstellen. Verwitterung und Zerstörung durch Mensch und Tier bedrohten die rock art (von Luschan 1922, 76). Die Rudolf-Virchow-Stiftung stattete 1906 eine Expedition aus und "reiche Zuwendungen" ermöglichten deren Ergebnis: "23 vollendet schöne und durch gleichzeitige Photographien genau kontrollierbare Aquarellkopien" für das Berliner Museum (von Luschan 1922, 77). Den Grund für das rege Interesse formulierte von Luschan 1908 wie folgt: "Die höchst auffallende und rätselhafte Ähnlichkeit, welche diese Buschmann Zeichnungen mit den prähistorischen Kunstwerken haben, die wir jetzt aus paläolithischer Zeit in Westeuropa kennen zu lernen anfangen, verleiht ihnen allerdings ein ganz besonderes und aktuelles Interesse." (683). Die Folge war, dass das Alter der rock art kontrovers diskutiert wurde. Von Luschan selbst neigte dazu, einen Teil der Bilder sehr viel früher zu datieren, "ein Alter von vielen Jahrhunderten und vielleicht einigen Jahrtausenden zuzuschreiben". Zugleich beschrieb er durch die Motive (Pferde und Europäer mit Flinten) deutlich datierbare Bilder als "stilistisch völlig aus der Reihe" und "infantil" (von Luschan 1922, 80). Die als älter eingestuften Bilder waren in der Veröffentlichung von 1922 für ihn, anders als noch 1908, "angebliche Buschmannskunst".
Festgehalten werden soll, dass zwar die Beobachtung von hunter/gatherer-Kulturen mit Erkenntnisinteresse für die Paläontologie fortgeführt wird – teilweise sogar bis heute, ein Teil der rock art jedoch nach 1910 herausgelöst betrachtet wurde. Diese Neubewertung hatte Folgen für die Zuschreibung der rock art und war mit geänderten Fragestellungen an das Material verbunden. Nach von Luschan stand nicht mehr die zentrale Frage der paläolithischen Archäologie zum Woher des Menschen im Vordergrund, sondern "Versuche, das Verhältnis der einzelnen Gruppen zueinander festzustellen" (von Luschan 1922, 13).
Fortsetzung folgt.
Sylvia Crumbach, M.A.
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