Orpheus im Tiergehege

Tiere sind nicht nur in Zoos, sondern auch in Freilichtmuseen eine beliebte Attraktion (Abb. 1). Kinder sind hingerissen von großen und kleinen Lebewesen, die sie beobachten und denen sie sich eventuell sogar nähern können, und auch ein Großteil der Erwachsenen lassen sich gerne darauf ein. Nun gehen Menschen in unterschiedliche Kulturen sehr verschieden mit der Betrachtung von Tieren um. Für die römische Gesellschaft überliefert der römische Schriftsteller Marcus Terentius Varro ein hübsches Beispiel (geb. 116 v. Chr., gest. 27 v. Chr.). Varro war ein sehr vielseitiger Autor, der sich unter anderem mit Geschichte, Philosophie und Sprachwissenschaft beschäftigte. Vollständig erhalten sind von ihm die „Gespräche über die Landwirtschaft“ in drei Büchern. Hierin lässt der Verfasser einen Gesprächspartner zu Wort kommen, der Tiergehege mit Wildfütterungen beschreibt (Varro, Über Landwirtschaft 3,XIII,1): „auf dem Gut […] sahst du auf einen Hornstoß hin zu einer bestimmten Tageszeit Wildschweine und Rehe sich versammeln, wenn von einem von der Plattform aus höheren Standort den Wildschweinen Eicheln, den Rehen Wicken oder sonst etwas hingeschüttet wurde.“

Eine Mauer verhindert, dass das Wild aus der hier beschriebenen weitläufigen Anlage entkommt oder Raubtiere eindringen. Zudem hat der Gastgeber dieses Gutshofes dafür gesorgt, dass sein Publikum von einem speziellen Aussichtsplatz aus wirklich viele Tiere beobachten kann. Nichts wird dem Zufall überlassen. Die Tiere sind an eine Fütterungszeit gewöhnt und auf ein akustisches Signal konditioniert. Auch manche heutigen Tierhalter nutzen ein derartiges klangliches Erkennungszeichen bei der Fütterung und können so zuverlässig ihre Zwei- oder Vierbeiner herbeilocken, die etwas zu fressen erwarten.

Ein anderer Gastgeber bietet sogar Unterhaltung im großen Stil (Gespräche über die Landwirtschaft XIII,2-3): „Der Schauplatz war ein Wald von […] mehr als fünfzig iugera (ein iugerum sind ungefähr 2520 Quadratmeter), der von einer Mauer eingefriedet war, eine Anlage, die man nicht etwa Hasengehege (leporarium), sondern Wildpark (therotrophium) nennen könnte. Dort befand sich ein erhöhter Platz, wo wir, nachdem die Essgruppe aufgestellt war, zu Mittag speisten; dorthin ließ der Gastgeber Orpheus bestellen.“

Dieser Orpheus ist in der Mythologie ein Held vieler Geschichten. Sein Vater war nach einer Überlieferung Apollo, der nach den Göttererzählungen das Spielen auf der Leier erfunden hat. Der Name seiner Mutter, der Muse Kalliope, bedeutet „die Schönstimmige“. Diese Eigenschaften hat Orpheus geerbt. Er spielte die Leier, die er von seinem Vater bekommen hatte. Dazu sang er derartig eindrucksvoll, dass ihm Tiere und Bäume zuhörten und sogar Steine weinten (Abb. 2).

In der bei Varro erzählten Begebenheit ist natürlich nicht der mythologische Held anwesend, sondern ein Schauspieler oder verkleideter Tierwärter, der eine Szene aus der vertrauten Geschichte umsetzen soll. Varro berichtet weiter: „Als dieser (Orpheus) mit Robe dorthin kam und aufgefordert wurde, ein Lied zur Leier zu spielen, blies er eines mit dem Horn. Darauf scharte sich eine so große Menge von Hirschen, Wildschweinen und anderen Vierfüßlern um uns, dass wir ein nicht weniger schönes Schauspiel erlebten, als wenn im Circus Maximus die Jagden […] ohne afrikanische Raubtiere veranstaltet werden.“

Hier findet eine Szene aus den Göttergeschichten ihren Platz in der Alltagsunterhaltung elitärer Kreise. Der mythologische Orpheus kam aus Thrakien, auf Bildern wird er stets mit „barbarischer“ Bekleidung, einer so genannten Phrygischen Mütze und Hosen dargestellt. An dieser Kleidung war der Darsteller für die Gäste also eindeutig zu identifizieren. Statt mit der Leier, deren zarte Klänge in dem großen Waldstück nicht weit zu hören gewesen wären, rief er die Tiere dann aber mit lauten Hornsignalen zur Futterstelle.

Die bei Varro beschriebene Gesellschaft versammelte sich zu ihrer Veranstaltung an einem besonders geeigneten Ort. Dieser war hoch gelegen, damit alle eine gute Aussicht hatten. Zudem wurden sie dort vermutlich nicht so leicht von den anrückenden hungrigen Tieren belästigt. Die Gäste erfreuen sich an einem opulenten Picknick. In eine Tischunterhaltung konnten übrigens auch noch auf andere Weise Themen aus der Mythologie eingebaut werden. So gab es mit Götterbildern verziertes Geschirr, über das bei der Tafel gesprochen worden ist.

Ein solches Essen im Freien mit Speisesofas, Tischen und Zubehör ist beispielsweise auf dem Mittelmedaillon einer silbernen Platte aus dem so genannten Seuso-Schatz (Abb. 3) abgebildet (vgl. Blog „Der ungefegte Boden – eine ganz spezielle Art von Mosaik“). Auf der Abbildung der spätantiken Platte sitzen die essenden und trinkenden Gäste an einem halbrunden Speisesofa unter Bäumen. Auf dem Tisch davor ist bereits ein Fisch aufgetragen worden, Diener bringen weitere Speisen und Getränke. Auch auf diesem Bildausschnitt sind am unteren Rand unterhalb der Diener noch Tiere erkennbar. Das Thema der Seuso-Platte ist allerdings die Jagd, nicht eine harmlose Tierschau.

Der Textausschnitt schließt mit einem Gedanken, der uns heute eher fremd ist. Die Freude der Gäste an der Fütterung wird mit dem Unterhaltungswert einer Jagd im Amphitheater verglichen, bei der die Tiere schließlich alle ihr Leben verlieren. Zu den antiken Vorstellungen passte es übrigens durchaus, dass auch in diese blutigen Vorführungen Szenen aus der Mythologie eingebunden waren. Der Schriftsteller Martial (geb. 40 n. Chr., gest. 103/104 n. Chr.) berichtet mit lakonischen Versen, wie der Auftritt in der Arena für den Darsteller des Orpheus schlecht ausgegangen ist (Martial I,21): „[…] Es wälzten Felsengipfel sich herbei, ein wunderbarer Wald war schnell zur Stelle […]. Mit Vieh gemischt war jede Art von wilden Tieren, und über Orpheus schwebten viele Vögel: Jedoch vom bösen Bären zerrissen lag er selber da. Nur dieses stand im Widerspruch zur Sage.“

Quellenzitate

W. Hofmann (Übers.), Martial, Epigramme (Frankfurt/M 1997).

D. Flach (Hrsg., Übers. und Erl.), Marcus Terentius Varro. Gespräche über die Landwirtschaft. Buch 3. Texte zur Forschung 67 (Darmstadt 2007).

Vgl. außerdem etwa W. D. Hooper / H. B. Ash (Lat. und engl. Übers.), Marcus Porticius Cato. On Agriculture. Marcus Terentius Varro. On Agriculture (London 1934).

 

Bildnachweise:

Abb. 1 Karl Banghard.

Abb. 2 Wikipedia, Autor Giovanni Dall’Orto.

Abb. 3 Wikipedia, Autor Elekes Andor.

 

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