Merowingische Mittelerde
Wundersame Begebnisse in einer quasi naturbelassenen Umgebung und die Gewissheit, dass immer das Gute siegt, können ungemein beruhigend sein. Bei der Lektüre der völlig unverständlicherweise immer noch nicht ins Deutsche übersetzten "Libri octo miraculorum" Gregors von Tours stolperte ich kürzlich über eine illustre Beschreibung eines heidnischen Kotzkultes bei Trier in (Buch I, Kapitel VI). Etwas später - und jetzt wird es interessant - findet sich diese Geschichte (Buch III, Kapitel I. 14):
De castello Italiae, Tertio nomine
Idem his verbis retulit: "In cacumine castelli regionis Italiae quod dicitur Tertium, oratorium beati Martini fundatum est. Ibique turri vicinae, quotiens incursione barbarorum per fraudem hostis accederet nocturnis insidiis, quisquis de vigilantibus habuisset in turre lanceam, aut spatam, vel cultellum, seu grafium protulisset ex theca, fere per horae spatium tale lumen reddebatur ex universo gladio, tanquam si illud ferrum verteretur in cereum. Et mox et ipso signo custodes admoniti, magnis intenti vigiliis, hostes latebrantes lapidibus exturbabant. ..."
Das Latein ist so einfach, dass sogar ich mir eine Übersetzung zutraue:
Über ein Kastell in Italien, das "Das Dritte" genannt wird
Auch berichtete er mit den folgenden Worten: "An der höchsten Stelle eines Kastells in Italien, das "das Dritte" genannt wird, wurde eine Kapelle für den Heiligen Martin errichtet. In einem Wachturm ebendort hatte - jedesmal bei einem barbarischen Streifzug, wenn sich Feinde nächtens räuberisch näherten - wer auch immer unter den Wachleuten des Turms eine Lanze, eine Spatha, ein Messerchen oder einen aus der Scheide gezogenen Dolch, deren komplette Klinge ein derartiges Licht abgaben, als ob sich dieses Eisen in Wachskerzen verwandelt hätte. Die unmittelbar durch dieses Zeichen gewarnten Wachleute waren so höchst aufmerksam bei der Wache und vertrieben die versteckten Feinde mit Steinen. ..."
Dass Eisenklingen leuchten wie Wachskerzen, ist natürlich eine fromme Analogie. Denn Kerzen tauchen in diesem etwas abseitigen Werk Gregors immer wieder als heilsbringende Gegenstände aus Kirchen auf. Bemerkenswert ist bei diesem Vorgang aber vor allem der Vergleich zu einer ganz anderen, wohlbekannten Geschichte: Auch das Schwert Stich, das im Universum J.R.R. Tolkiens ursprünglich von Elben im Ersten Zeitalter geschmiedet wurde, durch Bilbo Beutlin wieder aufgefunden und im Herrn der Ringe an Frodo Beutlin weitergegeben wurde, leuchtet. Und zwar immer, wenn sich Orks nähern. Stich spielt - wie in der Zwischenzeit mindestens der halbe Erdball weiß - eine zentrale Rolle im Herrn der Ringe.
Nun bin ich Archäologe und kein Tolkienforscher und kenne sicher nicht einmal ansatzweise die überbordende Literatur zum Lebenswerk Tolkiens (und möchte diese vielleicht auch gar nicht kennen). Falls ich im Folgenden einzelne Beobachtungen wiedergebe, auf die schon andere gekommen sind, liegt das an dieser Unkenntnis. Ich gebe das schließlich nur im Blog eines kleinen Schweinezüchtermuseums zum Besten und nicht etwa in einem Kongressband der Universität Oxford, wo Tolkien lehrte. Dennoch halte ich diese Zeilen für angebracht. Denn Tolkiens Hauptwerk greift gerade in seinen Kernerzählungen auf Bilder aus dem 6.-8. Jahrhundert zurück. Eindeutige Bezüge werden dabei bewusst vermieden: Tolkien baut ein ausgetüfteltes System aus den unterschiedlichsten Versatzstücken zusammen, um etwas Neues zu schaffen. In der populären Auslegung wird aber besonderes Gewicht auf die "nordischen" Elemente in seinen Geschichten gelegt. Diese sind zwar vorhanden, werden aber in der Exegese überbetont. Der aufschlussreichen Frage, wieso das so ist, möchte ich etwas näherkommen.
Unsere Leuchtschwertgeschichte gehört noch zu den Nebenthemen, die Tolkien aus dem Frühmittelalter entlehnt. Schon der Titel "Herr der Ringe" ist eine Floskel, die wiederkehrend im Beowulf, dem bekanntesten frühmittelalterlichen angelsächsischen Text, auftaucht. Der Beowulf war ein zentrales Feld in Tolkiens Forscherleben. So wurde an seiner Universität ein 2000-seitiges Konvolut zu Beowulf mitsamt einer Neuübersetzung aus Tolkiens Hand entdeckt. Im Beowulf-Epos wird mit hringa fengel der Potentat bezeichnet, der in der Lage ist, Goldringe zu verteilen. Ein Beispiel dafür sind die Zeilen 2345 und 2346 aus dem Beowulf-Epos:
Oferhogode ðá hringa fengel
Þœt hé Þone wídflogan weorode gehsóhte
Nicht reckenhaft schien es dem Herrn der Ringe
mit der Krieger Schar zu bekämpfen den Gegner
(in der Übersetzung von Hans-Jürgen Hube)
Das Motiv der Ringgeschichte selbst findet sich bereits bei Platon, der wie kein anderer nichtchristlicher Philosoph die merowingische Geistesgeschichte beeinflusst hat. In seiner Politeia erzählt er vom lykischen Hirten Gyges, der in einem gewaltigen Fürstengrab einen goldenen Ring entdeckt. Gyges merkt, dass er unsichtbar wird, wenn er diesen Ring am Finger dreht. Mit diesem Trick reißt er die Königsmacht an sich.
Konkret wird das Geschehen gerne auf einen spätantiken Goldringfund bei Silchester aus dem Jahr 1785 zurückgeführt. Kein geringerer als der berühmte Archäologe Mortimer Wheeler korrespondierte 1929 mit J.R.R. Tolkien zu der Inschrift auf diesem Ring SENICIANE VIVAS IIN DE. Diesen Bezug vermitteln seit 2013 britische Medien und Ausstellungen intensiv. Wie bei vielen spätantiken Ringen ist der Sinnspruch durch und durch von einer christlichen Sicht auf die Welt geprägt. Man fragt sich, wieso eine optimistische, lebensbejahend klingende Inschrift wie "Seniciane lebe in Gott" zu den düsteren Versen "Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden" inspiriert haben sollte.
Überdies gibt es bessere Analogien: Die goldenen Runenringe des 9. Jahrhunderts aus England. Davon liegen zwei sicher bewertbare Exemplare vor: Zumindest einer davon - derjenige aus Bramham Moor - wurde in einer vergleichbaren aquatischen Umwelt wiederentdeckt, wie der Eine Ring bei Tolkien. Die Runenringe aus weniger wertvollem Material stammen dagegen häufig von Bestattungsplätzen. Keiner von diesen einfachen Exemplaren (die Ringe von Coquet Island, vom Kirchhof von Cramond in Midlothian, Wheatley Hill bei Durham, von Manchester, von London und von Llysfaen bei Colwyn bay in Wales) scheint ein Gewässerfund zu sein. Deren Inschriften spiegeln eher das, was man von Runeninschriften auf frühmittelalterlichen Schmuckstücken gewohnt ist: Personennamen oder einfach die (für heutige Lesegewohnheiten saudumme) Feststellung: "Ich werde Ring genannt".
Ganz anders dagegen die goldenen Prunkexemplare, bei denen die drei Eigenschaften kryptische Runeninschrift, hoher Materialwert und Gewässerfund signifikant miteinander kombiniert zu sein scheinen. Die Runensequenz des Ringes aus Bramham Moor, der heute im Dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen aufbewahrt wird, lässt sich so transkribieren:
'ærkriuflt / kriuriþon / glæstæpon͡tol'
Die Inschrift des Goldringes von Kingmoor ist nahezu gleichlautend:
'+ ærkriufltkriuriþonglæstæpon/tol'
Beide Runeninschriftenwurden mit einem angelsächsischen Medizinbuch aus dem 9. Jahrhundert, dem "Balch's Leechbook" (British Library MS Royal 12, D xvii) in Verbindung gebracht. Denn dort kommt auch die Buchstabensequenz ærkriu für Blut stillen vor. Der Ratgeber gibt in dem betreffenden Textausschnitt den folgenden Therapievorschlag: "Um Blut strömen zu lassen, steche mit einer ganzen Gerstenähre so in das Ohr, dass er es nicht merkt. Jemand schrieb dies". Das Wort ærkriu wurde aus dem Altirischen abgeleitet. Die moorige Auffindungsaura, das edle Material und der heute düster-kryptisch wirkende Text lassen durchaus Gedanken an den Einen Ring Tolkiens und dessen in der Dunklen Sprache formulierten, in Tengwar-Schrift verfassten Inschrift aufkommen.
Als der Ring von Gollum zu Bilbo Beutlin wechselt, kommt es zu einem langen Rätselwettstreit. Genau solche Rätsel sind ein Hauptgenre der frühmittelalterlichen angelsächsischen Literatur.
Aber auch sonst taucht das Frühmittelalter immer wieder und in Schlüsselszenen auf: So geht der Begriff Hobbit auf Altenglisch *hol-bytla (Höhlenbewohner) zurück. Ihre Namen Pippin, Peregin oder Otho sind typisch für das Merowingerreich. Und die Bezeichnung Ork wird nach dem Selbstzeugnis Tolkiens direkt aus dem Beowulf übernommen. Besonders "nordisch" werden sowohl in Film als auch in der Exegese Tolkiens die Reiter von Rohan gezeichnet. Ebenso mühsam wie apodiktisch betont man die skandinavisch-wikingischen Analogien zu den Rohrrim. Aber auch hier tragen die zentralen Personen Namen, die in der Spätantike und dem Frühmittelalter beliebt waren. Man denke nur an die Könige Theoderic oder Theumer. Und der Name Éomer wurde sogar direkt aus dem Beowulf übernommen, dort heißt der Sohn des legendären Königs Offa so. Dass Tolkien wie viele Engländer und Franzosen die Merowinger sympathischer als die Karolinger fand und die Verdrängung der alten Könige durch deren Hausmeier insgeheim bedauerte, klingt bei der Beschreibung der Könige von Gondor an. Ihren Platz verwalten ihre Truchsesse. Dass diese dem alten Königtum bei dessen Rückkehr nur ungern weichen, bekräftigt das Bild der vermeintlich wahren, alten Herrschaft. Hausmeier und Truchsesse scheinen hier austauschbar.
Weitere Wortspiele: Ein Oilifant ist im altfranzösischen Rolandslied das Horn, in das Roland stößt (nicht zu verwechseln mit den Ottifanten). Die Geschichte spielt in der Zeit Karls des Großen. Der Morgenstern heißt im Altenglischen Earendil, im Althochdeutschen Orentil, im Langobardischen Auriwandalo. Earendil nennt Tolkien den als Morgenstern in den Himmel erhobenen Halbelben, der im Silmarillion eine entscheidende Rolle spielt. Der Name ist direkt aus dem angelsächsischen Gedicht Christ des Cynewulf aus dem 9. Jahrhundert übernommen. Gerade dieses Poem hat viele Analogien zu Tolkiens Welt.
Ents kommen ebenfalls in fast jedem altangelsächsischen Schlüsselwerk vor: In The Wanderer, im Beowulf (Vers 2774) und in The Ruin. Ents nannte man Giganten, die in der Regel etwas positives getan haben. Römische Monumente und neolithische Großsteingräber führte man auf "orÞanc entu geweorc", auf "Werke kunstfertiger Riesen", zurück. Auch der Arkenstein, der im Hobbit eine Hauptrolle spielt, hat seine Bezeichnung vom altenglischen Wort für Edelstein, eorkanstane, bekommen. Er ist die kostbarste Zimelie im Hort des Drachen Smaug (vom althochdeutschen Verb smugan = durch ein Loch drücken).
Überhaupt die Drachen: Ihre frühmittelalterlichen Prototypen, insbesondere aus dem Beowulf-Epos, werden in der populären Tolkien-Ausdeutung heillos unterbewertet. Die "nordischen" Elemente, vor allem aus dem Nibelungenlied, setzt man dagegen mühsam in Szene. Das um 1200 entstandene Nibelungenlied erwähnt den Drachenkampf nur am Rand. Erst das im 16. Jahrhundert niedergeschriebene "Lied vom hürnen Seyfrid" geht intensiver auf den Drachenkampf ein. Die Suche nach der verwundbaren Stelle des Drachen als zentralem Ansatzpunkt seiner Vernichtung ist bereits bei Beowulf ein Thema. Der Hort des Beowulf-Drachen ähnelt mehr dem Smaug-Hort als sämtlichen Drachenhorten aus den mittelalterlichen Geschichten.
Auch Tolkiens erstes Runensystem stammt aus dem Frühmittelalter: In der frühen Epoche Mittelerdes, dem älteren Zeitalter, lässt er weitgehend das frühmittelalterliche ältere Futhark schreiben. Das spätere jüngere Futhark geht dagegen so gut wie nicht in Tolkiens Sprachgebäude ein.
Die Entmerowingisierung der Hobbitwelt offenbart sich letztlich auch in der Figur des Beorn. Dieser kann sich in einen Bären verwandeln, er ernährt sich von Sahne und Honig. Darin klingt die Beowulf-Geschichte an, mit der sich Tolkien so intensiv beschäftigt hat: Beowulf heißt Bienenwolf, was Bär bedeutet. In Film und Erklärliteratur wird Beorn eindeutig in der wikingischen Welt verortet. So sieht der populärste Nordischmacher Mittelerdes, Rudolf Simek, eine Zeichnung Tolkiens von Beorns Halle als "weitgehend authentische Darstellung einer skandinavischen Halle der Wikingerzeit" an (Simek, Mittelerde, S. 97). Nicht so richtig einordnen kann er dabei die seltsamen Verbindungen zwischen Ständern und Pfetten. Sie bezeichnet Simek als "ahistorisch" in einem ansonsten seiner Ansicht nach stimmigen nordischen Ambiente. Ein Blick auf die vielen Nennungen von Eisenverbindungen in der Halle im Beowulf-Epos hätte diese vermeintliche Unstimmigkeit aufgelöst. Denn sehr genau bezieht sich Tolkien mit seiner Zeichnung auf das Beowulf-Epos. Auch hier verstellt die allzu nordische Perspektive den Blick.
Aber was hat das wieder Mal mit Nazis zu tun? Bereits vor dem Herrn der Ringe-Boom vor 15 Jahren hat sich die extreme Rechte auffällig häufig auf Tolkien bezogen. Früh schon geschah dies im italienischen Rechtsrock und bei extrem rechten italienischen Liedermachern. Dort ging es noch um die unterschiedlichsten Lebensformen Mittelerdes. Mit dem Aufstieg des nationalsozialistischen Black Metal berief man sich dann fast ausschließlich auf die finstere Seite von Tolkiens Welt. So ist das legendärste Musikprojekt dieses Genres, Burzum, ist der Begriff für "Finsternis" in der Dunklen Sprache. Uruk-Hai sind die Nobelorks des Zauberers Saruman im Herrn der Ringe, aber auch der Name der Vorgängerband von Burzum. Die dunkle Festung Saurons, Barad-Dur, gab einer ebenfalls populären extrem rechten Band den Namen. Berühmte rechte Metaller gaben sich Pseudonyme wie Nazgul, Glaurung (der erste gezüchtete Drache) oder Gothmog (ein Balrog oder der Statthalter von Minas Morgul). Die Band Ewiges Reich hatte ein Myrkvid Projekt. Mirkwood heißt im englischen Tolkien-Original der Düsterwald, in dem Sauron sein Unwesen trieb. Durch den Myrkviðr wandeln in der nordischen Tradition die Muspells-Söhne vor Ragnarök. Er trennt im Hunnenschlachtlied die Hunnen von den Goten, vielleicht sind damit die Karpathen gemeint. Taur-nu-Fuin (eine verwüstete Landschaft im Silmarillion) ist ein berühmter Plattentitel des polnischen nationalsozialistischen Black Metals. Nach Isengart (dem Sitz Sarumans) ist ein genozidbejahendes Label benannt.
Es wirkt erst einmal absonderlich, dass sich Rechte mit der Verliererseite identifizieren. Schließlich siegt bei Tolkien das Gute. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Figur des Sauron, dem die nordischlastige Tolkien-Interpretation eine Ähnlichkeit mit Odin zuspricht. Das eine Auge, die Spähervögel und die Verwandlung sprechen dafür. Odin finden eben auch viele harte Rechte gut, zumal einen starken und unheimlichen Odin. Insofern verstellt die allzu nordische Interpretation Tolkiens nicht nur den Blick auf sein Werk, sie fördert auch seine politische Umdeutung.
Karl Banghard
Literatur:
Stellvertretend für die überbordende "nordische" Rezeption Tolkiens steht das viel gelesene und -rezipierte Buch Rudolf Simeks:
R. Simek, Mittelerde. Tolkien und die germanische Mythologie (München 2005).
Grundlegendes zu unseren goldenen, angelsächsischen Runenringen findet man hier:
B. Dickens, Runic Rings and Old English Charms. Archiv für das Studium der Neuren Sprachen, 167, 1935, 252.
E. Okasha, Anglo-Saxon Inscribed Rings. Leeds Studies in English, 34, 2003, 29-45.
R. I. Page, An Anglo-Saxon Runic Ring. Nytt om runer, 12, 1998, 11-12.
D. M. Wilson, A Group of Anglo-Saxon Amulet Rings. In P. Clemoes (Hrsg.), The Anglo-Saxons: Studies in some Aspects of their History and Culture presented to Bruce Dickins, Cambridge1959, 159-170.
Und zu Bald's Lechbook:
R. S. Nokes, , The several compilers of Bald's Leechbook. Anglo-Saxon England, 33, 2004, 51-76.
Da ich weder Tolkien- noch Rechtsrockspezialist bin, danke ich herzlich dem Stammtisch Bielefeld der Deutschen Tolkien-Gesellschaft und dem Verein für Argumente und Kultur Bielefeld für Ratschläge!
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