Lippische Megalithik
Zwei Versuche


„Schüsse aus der Steinzeit“ heißt ein berühmter Archäologenkrimi von Tony Hillerman. Heute erlaube ich mir zwei Schüsse frei zu haben – Schüsse zur Steinzeit. Denn eines der größten archäologischen Rätsel in Lippe ist die Frage, wo die Kollektivgräber des dritten und vierten vorchristlichen Jahrtausends zu finden sind.
Irgendwo müssten sie eigentlich sein, man hat sie vermutlich nur noch nicht entdeckt. Nördlich, östlich, südlich und westlich der Landesgrenzen gibt es sie nämlich. Meist in Form von so genannten Galeriegräbern, das heißt Megalithanlagen mit einer Hauptkammer und einer langschmalen Vorkammer. Hingegen sind Großsteingräber (also die altbekannten Hünenbetten aus schweren Findlingen) in Lippe weniger zu erwarten, ihr Hauptverbreitungsgebiet liegt weiter nördlich. Zahlreiche Fundstellen belegen, dass Lippe in diesen Jahrhunderten nicht unbesiedelt war. Und wo gelebt wird, wird auch gestorben und wo gestorben wird, wird auch bestattet.
Ohne Spekulation ist es schwierig, in dieser Sache weiterzukommen, spätneolithische Kollektivgräber kommen nur in den seltensten Fällen bei großflächigen Ausgrabungen ans Licht. Einfach auf archäologischen Beifang im Tagesgeschäft zu warten, wird nicht funktionieren. Deshalb Vorhang auf für die Galerie der möglichen Galeriegräber in Lippe:
 

Leopoldshöhe-Bechterdisserheide, „Judenfriedhof“

Hier, im Niemandsland an der äußersten Bielefelder Grenze, entdeckte unser Museumsgründer Hermann Diekmann bereits am 5. Februar 1939 eine auffällige Agglomeration von Findlingen. Das ist heute vor genau 80 Jahren! Seine Aufmessung des Befundes (Abb. 2) erweckt den Eindruck einer megalithischen Grabanlage. Die Fundmeldung geriet kriegsbedingt in absolute Vergessenheit, der Fundplatz ist heute in keiner Ortsakte registriert.
2010 konnte ich zusammen mit dem Bewirtschafter Hugo Glietz, der sich als ausgesprochen sach- und ortskundiger Führer erwies, die Fundstelle relokalisieren. Heute liegen die Findlinge in völlig anderer Anordnung in einem Auwäldchen im Tal des unmittelbar angrenzenden Sussiekbaches. Der Grund dafür: In den 1940er-Jahren wurde das Umfeld der Fundstelle massiv kultiviert. Bei diesen intensiven Rodungsmaßnahmen schleifte man die großen Findlinge, die bei den Sprengungen der Baumstümpfe und beim Tiefpflügen anfielen, ins Tal des Sussiekbaches. Dort störten sie nicht mehr beim Pflügen. Die Umgebung wird von den Bewirtschaftern als ungewöhnlich reich an Findlingen geschildert. Dies kann natürliche Ursachen haben oder auf Megalithanlagen hindeuten.
Die meisten Findlinge haben eine plattige Form. Anordnung und Ausmaße – immerhin 12,2 Meter erhaltene Länge – passen gut in das Bild, das wir zu diesen Gräbern kennen.
 

Für eine Interpretation als spätneolithisches Kollektivgrab spricht:

- Die ausgeprägte Grenzlage. Unsere Steinagglomeration liegt unmittelbar an der lippisch-preußischen Grenze. Möglicherweise diente sie im Mittelalter als Grenzmarke zwischen den Gemarkungen Bechterdissen (Lippe) und Dingerdissen (Ravensberg). Megalithgräber oder markante Grabhügel findet man nicht selten auf politischen Grenzen des Mittelalters. Dass dies kein Zufall ist, zeigen die Schriftquellen, die solche damals noch stärker hervorstechenden Monumente als Orientierungspunkte zum Abstecken politischer Territorien benennen.

- Der Gewannname „Judenfriedhof“, obwohl am Platz nie ein jüdischer Friedhof erwähnt war. „Judengrab“ oder „Judenfriedhof“ sind typische Bezeichnungen für Örtlichkeiten mit vor- und frühgeschichtlichen Bestattungen. Der Begriff stand für vorchristliche, nach dem damaligen Verständnis eben alttestamentarische Gräber. Man kann dem ohnehin geplagten völkischen Teil unserer geneigten Leserschaft den ortsnamenskundlichen Merksatz nicht ersparen: Wo Jude draufsteht, ist Germane drin.

- Die verkehrsgünstige Lage im Einzugsbereich des Lippischen Hellwegs (heute nachgezeichnet durch die B 66) ist ebenfalls typisch für megalithische Grabmonumente.

- Bereits Hermann Diekmann fand 1939 vor Ort zwei Steinartefakte, die er als Kratzer bezeichnete. 2010 konnte ich zusammen mit Kerstin Schierhold, die damals ein großes Forschungsprojekt zu spätneolithischen Kollektivgräbern in Westfalen leitete, am Fundplatz einige wenige Feuersteinartefakte auflesen, die gut in die Zeit passen.

 

Oerlinghausen Helpup, „Hoekenkamp“

Der 2004 von Eva Stauch und mir entdeckte Fundplatz zeichnet sich durch überdurchschnittlich viele spätneolithische Pfeilspitzen und durch einen hohen Prozentsatz von verbrannten Feuersteinartefakten aus.

Aus folgenden Gründen könnte dies auf einen spätneolithischen Grabplatz hinweisen:

-Das Steinartefaktspektrum ist ungewöhnlich für spätneolithische Siedlungen. Es spricht eher für Grabinventare.

-Galeriegräber liegen häufig am Nordhang. Den Hoekenkamp kann man als klassische Lage für solche Monumente bezeichnen.

-Unmittelbar angrenzend ist in den 1920er-Jahren eine bronzezeitliche Grabhügelgruppe bekannt geworden, der Hang wurde also gerne als Friedhof genutzt.

-Die Verkehrstopogaphie: Der Fundplatz liegt im Einzugsbereich der B 66 und somit des alten Lipper Hellwegs.

-Auch hier handelt es sich um eine ausgeprägte Grenzlage, der Hoekenkamp markiert das „Dreiländereck“ zwischen Helpup, Oetenhausen und Oerlinghausen.

Wie gesagt: Dies sind alles keine sicheren Indizien. Durch Geophysik könnte man hier mehr Klarheit bekommen. Die beiden Fundplätze passen jedenfalls sehr gut in eine aktuelle Kartierung durch Hans-Otto Pollmann  (Abb. 4). Diese zeigt eine überaus deutliche Trennung zwischen Trichterbecherkultur (mit Großsteingräbern) im Norden und Wartbergkultur (mit Galeriegräbern) im Süden. Wie im Bilderbuch schiebt sich zwischen die beiden Kulturräume eine fundleere Zone im zentralen Münsterland und der Senne. Eine einzige Siedlungsinsel in den Beckumer Bergen scheint aus diesem Landstrich ohne Funde herauszuragen. Zumindest beim zentralen Münsterland können keine natürlichen Faktoren für die Fundarmut verantwortlich sein, dort wurde ansonsten immer gerne gesiedelt. Unsere beiden potentiellen westlippischen Fundstellen würden dieses Kartenbild hervorragend komplettieren. Sie haben das Potential, die lippische Delle der Megalithkultur zu schließen. Vielleicht regen also unsere Bechterdisser Steine exakt 80 Jahre nach ihrer Entdeckung an, über die späte Steinzeit in der Region nachzudenken. Dafür ist es nie zu spät.

 

Literatur:

Hans-Otto Pollmann, Das Neolithikum Westfalens – neu kartiert. Archäologie in Westfalen-Lippe 2018, 195-199.

 

Karl Banghard

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