Kilometerarbeit! Römische Spinnkunst

Kleidung gehört heute vielfach zu den Billigprodukten. Ware aus Fernost, für wenige Euro das Stück angeboten, ist in Massen verfügbar. Möglich ist dies einerseits durch schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne in den Erzeugerländern, vor allem aber auch durch industrielle Verarbeitungstechniken. In der Antike herrschte, nicht anders als gegenwärtig, ein großer Bedarf an Textilien für Bekleidung, Haushalt, Verpackungsmaterial und Segel. Allerdings gestalteten sich auf Grund der damaligen technischen Möglichkeiten die einzelnen Schritte der Textilproduktion ungleich zeitaufwendiger. Von der Jungsteinzeit an, in unserem Raum vor mehr als 7.000 Jahren, bis zum Aufkommen des Spinnrades Ende des 13. Jahrhunderts, war die Handspindel das einzige bekannte Spinngerät (Claßen-Büttner, Spinnst Du?). Bis heute ist sie bei Nomaden noch gelegentlich in Gebrauch, weil man sie überall hin mitnehmen und einsetzen kann, im Stehen, Gehen und Sitzen. In den Industrienationen sind es historisch Interessierte aus Wissenschaft und Hobby, die die Handspindel vor dem Vergessen bewahren.

Mit dem Spinnen stellen wir hier eine Facette der Textilproduktion vor, die in der Antike selbstverständlich zum Alltag der Frauen gehörte.

Das Spinngerät der Römer (für Wolle) war zweiteilig und setzte sich aus Handrocken, auch Kunkel genannt, und Spindel zusammen (Abb. 1). Der Rocken, ein kurzer, gelegentlich verzierter Stab oder, im einfachsten Fall, eine Astgabel hält die vorbereiteten Fasern bereit. Die Spindel besteht aus einem dünnen Stab mit einer leichten Verdickung, ungefähr im unteren Viertel, und einem kleinen aufgesteckten Gewicht, dem Wirtel. Sie sorgt für das Verdrillen der Fasern und nimmt das Garn auf. Der Spinnwirtel kann als Hochwirtel oben oder als Tiefwirtel unten an der Spindel aufgeschoben sein.

Für Spindelstäbe und Rocken wurde meist Holz verwendet. Günstige Spinnwirtel, soweit nicht ebenfalls aus diesem Rohstoff (Benguerel et al., Tasgetium S. 106), wurden aus gebranntem Ton oder einfach aus einer gelochten Keramikscherbe (Scherbenwirtel) gefertigt. Nachgewiesen sind (halb)kugelige, doppelkonische, linsen- und scheibenförmige Exemplare. Holz vergeht leicht, und so sind ausgerechnet die billigen Spinngeräte, die damals in jedem Haushalt verbreitet gewesen sein müssen, höchst selten vollständig überliefert und es bleiben nur noch die Tonwirtel übrig (Gostenčnik, Textilgeräte). Ein Ausnahmefund stammt aus der Körperbestattung einer jungen Frau aus Les Martres-de-Veyre, Dép. Puy-de-Dôme/F (Audollent, Martres-de-Veyre S. 305-306; AchéoMartres): Hier hat sich nach etwa 1900 Jahren sogar die Astgabel samt Wollvlies erhalten (Abb. 2)!

In Köln wurden bei Ausgrabungen im Bereich des ehemaligen römischen Hafens dank des staunassen Bodens ungewöhnlich viele Spindelstäbe entdeckt. Sie bestehen überwiegend aus Holunderholz. Des Weiteren wurden, wie auch andernorts, Eibe und Hölzer von Obstbäumen nachgewiesen (Tegtmeier, Holzobjekte S. 78-85; Benguerel et al., Tasgetium S. 106).

Eine Vorstellung davon, in welchen Dimensionen sich der Bedarf an Garnen bewegt haben muss, vermitteln einzelne, gut erhaltene Kleidungsstücke. Dazu gehören zwei in einem Stück gewebte Teile einer Wolltunika aus der „Cave of Letters“ in Israel (Yadin, Cave of Letters S. 218-219): Für diese Stoffbahn von 2 m Länge und 1,15 m Breite, die mit ungefähr 11 Kettfäden pro Zentimeter und 19 Schussfäden pro Zentimeter eine für die römische Kaiserzeit durchschnittliche gute Qualität aufweist, jedoch kein Luxusprodukt ist, wurden rund 7.000 m Garn benötigt.

Nach Messungen aus dem frühen 20. Jahrhundert schafften Spinnerinnen stündlich 60-84 m Garn (Forbes, Studies S. 170). Weberinnen und Archäologinnen, die das Spinnen im Rahmen der experimentellen Archäologie zeitweise intensiv betreiben, jedoch nicht von klein auf, kamen in Testreihen auf durchschnittlich 40 m pro Stunde (Grömer, Aussagemöglichkeiten S. 179; Mårtensson et al., Whorl 8). Zum Vergleich: moderne Spinnmaschinen erzeugen diese Menge in einer einzigen Sekunde!

Natürlich hätte es viel zu lange gedauert, bis eine Person allein das gesamte Garn für ein Gewebe hergestellt hätte. Vielmehr waren mehrere Arbeitskräfte daran beteiligt und produzierten kilometerweise das gewünschte Garn, also in der gleichen Stärke und mit ähnlichem Drall.

Spätestens an dieser Stelle versteht man folgenden Rat, den der antike Schriftsteller Columella in seinem Werk über Landwirtschaft (Columella 12,3,37-44, zitiert nach Richter) empfiehlt: „An Regentagen, oder wenn eine Frau wegen Frostes oder Reifs keine Landarbeit im Freien verrichten kann, so dass sie zur Wollarbeit eingesetzt werden kann, sollen [Fehlstelle im überlieferten Text] und ausgekämmte Wolle bereitliegen, damit sie ohne Schwierigkeiten selbst ein angemessenes Pensum am Spinnrocken erledigen und dasselbe auch von anderen verlangen kann.“ Gemeint ist hier die Frau des Gutsverwalters, die den Sklavinnen eine gewisse Wollmenge (Pensum) zum Verarbeiten geben soll. Heute kennen wir ja noch den übertragenen Begriff des Arbeitspensums.

Vor dem Spinnen wird zunächst der Rocken bestückt. Dazu wird ein Strang Vorgarn ordentlich und nicht zu fest um die obere Hälfte gewunden (Abb. 3a). An den Darstellungen fällt auf, dass die Menge Vlies in etwa faustgroß ist. Tatsächlich bringt es keinen Vorteil, die Kunkel zu überladen, denn je mehr Garn die Spindel aufnimmt, desto schwerer wird sie, bis der Punkt erreicht ist, an dem der Faden zwangsläufig reißen muss.

Zu Beginn zieht man ein wenig Vlies heraus und verdrillt es (Abb. 3b). Dieser Faden wird am Wirtel und mit einer Schlaufe am oberen Ende des Spindelstabes befestigt (Abb. 3c-d). Rechtshänder nehmen den Rocken in die linke und die Spindel in die rechte Hand. Die Spinnerin fasst die Spindel oben zwischen Daumen und Zeigefinger, versetzt sie in Drehung und lässt los. Solange das Gerät rotiert, greift sie mit der rechten Hand nach oben und zupft Fasern aus dem Bausch, wobei die Menge zusätzlich mit dem Daumen und dem Zeige- oder Mittelfinger der linken Hand reguliert wird (Abb. 3e). Beim Öffnen der Finger der rechten Hand setzt sich der Drall in die Fasern hinein fort, die idealerweise zu einem Dreieck zusammenlaufen (Spinndreieck). Lässt die Rotation nach, wird die Spindel erneut angedreht. Die einmal gewählte Spinnrichtung, also mit dem Uhrzeigersinn (Z-Drehung) oder entgegengesetzt (S-Drehung), muss natürlich beibehalten werden. Erreicht der Faden den Boden, wird zunächst der neu gesponnene Abschnitt um zwei Finger der linken Hand gewunden (Abb. 3f), die Schlaufe an der Spindel gelöst und der Faden aufgewickelt. Dabei hilft es, die Spindel auf der Hüfte abzustützen (Abb. 3g). Für diese Vorgehensweise findet sich aus römischer Zeit zwar bisher keine Darstellung, aus dem Mittelalter ist sie aber belegt. Um die Mitte des Spindelstabes sollte eine leichte Verdickung entstehen, denn dann rotiert die Spindel gleichmäßig und fängt nicht an zu trudeln. Schließlich wird der Faden wieder mit einer Schlaufe gesichert (Abb. 3h), und der Spinnvorgang beginnt von Neuem (Abb. 3i).

Das Zusammenspiel der Hände beim Umgang mit Kunkel und Fallspindel (Abb. 4a-b) hat Catull (Carmina 64,311-314, Übersetzung nach Helm) in einem Gedicht mustergültig beschrieben, wobei hier die Schicksalsgöttinnen, die Parzen spinnen: „Und es wirkte die Hand […] am Faden. Hielt die Linke den Rocken, mit weicher Wolle umschlossen […]. Zog die Rechte dann sacht von dem Knäuel und formte die Fasern. So mit gewendeter Hand, setzt dann, den Daumen nach unten, schwenkend die schwebende Spindel in Gang mit gedrechseltem Wirtel …“. Eventuelle Unreinheiten im Faden, so Catull an gleicher Stelle, entfernten die Spinnerinnen übrigens mit den Zähnen.

War die Spindel voll, wurde das Garn zu Knäueln gewickelt (Yadin, Cave of Letters S. 187-188). Oder man zog den Wirtel vom Spindelstab ab und hatte so automatisch die Webspule zur Hand.

Die Qualität des Gespinstes wird von mehreren Faktoren bestimmt. Eine wichtige Voraussetzung war die Beschaffenheit des Vorgarnes, das durch sorgfältiges stundenlanges Kämmen und Kardieren der gewaschenen Flocke entstand, um die Fasern zu sortieren und parallel auszurichten. Je länger, glatter und feiner die Fasern, desto besser gelingen dünne Garne mit ebenmäßiger Oberfläche.

Übrigens: gefärbt wurde die Wolle bereits vor dem Spinnen. So konnten Unregelmäßigkeiten in der Färbung beim Kämmen ausgeglichen werden, was bei Tuchen nicht mehr möglich ist. Gefärbtes unversponnenes Vlies entdeckten Archäologen in der Cave of Letters (Yadin, Cave of Letters S. 171-187).

Ein weiterer Faktor, der sich auf die Garnstärke auswirkt, ist selbstverständlich das Gewicht des Spinnwirtels (Grömer, Aussagemöglichkeiten S. 179-180). Die Funde vom Magdalensberg bei Klagenfurt beispielsweise wiegen zwischen 2 und 81 g (Gostenčnik, Textilgeräte S. 212). Für dünne Fäden ist natürlich ein leichter Wirtel geeignet. Reißfeste, weil stärker verdrillte Garne erzeugt man mit einem schweren Wirtel, der aufgrund seiner Masseträgheit die Rotationsgeschwindigkeit länger beibehält als ein leichter.

Nicht zu vergessen ist außerdem das Geschick der Spinnerin. Eine geübte Hand kann Garnstärke, Drall und Spinnrichtung gezielt variieren, je nachdem welche Beschaffenheit das spätere Gewebe haben soll.

Da Kettgarne einer hohen Belastung ausgesetzt sind, weisen sie in der Regel eine stärkere Drehung auf als Schussgarne. Bei den gewirkten Verzierungen römischer Gewebe ist der Unterschied besonders groß: Um die Schussfäden dicht anschlagen zu können und so die Kettfäden zu verdecken, sind erstere nur schwach gesponnen (Calament/Durand, Antinoë S. 420, Nr. 169). In einem Graffito aus Pompeij, das die Arbeitsleistung von 13 unfreien Frauen angibt, wird konkret zwischen der Herstellung von Kettgarn und Schussgarn unterschieden. So hat eine Januaria 2 Pensa Schussfäden und 2½ Pensa Kettfäden verarbeitet (vgl. Geist, Wandinschriften S. 94-97 Nr. 39 zu CIL IV 1507).

Textilien aus stark überdrehten Garnen neigen dazu sich zusammenzuziehen und weisen darum eine wellenartig gekräuselte Oberflächenstruktur auf. Solche Stoffe mit Kreppeffekt waren, wie sich anhand von Vasenbildern, Reliefs und Skulpturen belegen lässt, besonders bei den Griechen seit archaischer Zeit beliebt und wurden später auch von den Römern getragen (Abb. 5).

Untersuchungen an Stoffresten zeigen außerdem, dass auch die Spinnrichtung nicht dem Zufall überlassen wurde, sondern stark von regionalen Traditionen abhing. Textilien aus Ägypten sind überwiegend aus S-gedrehten Garnen gewebt, weil dies der natürlichen Struktur der dort traditionell verwendeten Flachsfasern entspricht. Die Kelten der Hallstattzeit hingegen kombinierten für Ton-in-Ton gemusterte Gewebe gezielt Garne beider Drehrichtungen in Kette und Schuss (Grömer, Prehistoric textile making S. 172-173): Der Wechsel in der Spinnrichtung äußert sich in einer unterschiedlichen Reflexion des Lichtes auf der Textiloberfläche (sog. Spinnrichtungsmuster).

Wegen der Vergänglichkeit der Holzgeräte und der Textilien ist für uns heute die Leistung der unzähligen Arbeitskräfte, die die einfachen Spinnutensilien benutzten, beinahe unsichtbar. Stattdessen stoßen Museumsbesucher viel häufiger auf Exemplare aus kostbaren Materialien. Um diese Statussymbole geht es im nächsten Blog.

Blog 2: (http://afmblog.de.dedi523.your-server.de/kilometerarbeit-roemische-spinnkunst-teil-2-von-3.html)

 

 

 

 

 

Im Text zitierte antike Quellen:

Catull: R. Helm (Hrsg. und Übersetzung), Catull Gedichte. Schriften und Quellen der alten Welt 12 (Berlin 1963).

Columella: W. Richter (Hrsg. und Übersetzung), Lucius Iunius Moderatus Columella, Zwölf Bücher über Landwirtschaft III (Zürich/München 1983).

 

Ausgewählte Literatur:

ArchéoMartres: www.msh-clermont.fr/content/archéomartres (abgerufen 27.05.2020).

Audollent, Martres-de-Veyre: M. A. Audollent, Les tombes gallo-romaines à inhumation des Martres-de-Veyre (Puy-de-Dôme), Mémoires présentés par divers savants à l´Académie des Inscriptions et Belles-Lettres de l´Institut de France, Tome XIII, Première Partie 1923, 275-328.

https://www.persee.fr/doc/mesav_0398-3587_1923_num_13_1_1108 (abgerufen 27.05.2020).

Benguerel et al, Tasgetium: S. Benguerel, H. Brem, I. Ebneter, M. Ferrer, B. Hartmann, U. Leuzinger, Chr. Müller, A. Rast-Eicher, S. Rühling, R. Schweichel, J. Spangenberg, Tasgetium II – die römischen Holzfunde, Archäologie im Thurgau 18 (Frauenfeld 2012).

Calament/Durand, Antinoë: F. Calament/M. Durand (Hrsg.), Antinoë à la vie, à la mode (Paris/Lyon 2013).

Claßen-Büttner, Spinnst Du?: U. Claßen-Büttner, Spinnst Du? Na, klar! (Norderstedt 2009).

Forbes, Studies: R. Forbes, Studies in Ancient Technology Bd. IV, 2. Auflage (Leiden 1964).

Geist, Wandinschriften: H. Geist, Pompeianische Wandinschriften (München 1936) S. 94-97 zu Nr. 39 (CIL IV 1507).

Gostenčnik, Textilgeräte: K. Gostenčnik, Aus den Augen aus dem Sinn? Hölzerne Textilgeräte und ihre Nachweisbarkeit am Beispiel Noricum. Lignum. Holz in der Antike. Keryx 1 (Graz 2011), 207-239.

Grömer, Aussagemöglichkeiten: K. Grömer, Aussagemöglichkeiten zur Tätigkeit des Spinnens aufgrund archäologischer Funde und Experimente. Archaeologica Austriaca 88, 2004 (Wien 2006), 169-182.

Grömer, Prehistoric textile making: K. Grömer, The art of prehistoric textile making (Wien 2016).

Mårtensson et al., Whorl: L. Mårtensson, E. Andersson, M.-L. Nosch, A. Batzer, Technical report experimental archaeology part 2:2 - Whorl or bead? 2006.

https://ctr.hum.ku.dk (abgerufen 27.05.2020).

Tegtmeier, Holzobjekte: U. Tegtmeier, Holzobjekte und Holzhandwerk im römischen Köln: Archäologie Nord-Süd Stadtbahn Köln. Monographien zur Archäologie in Köln 1 (Mainz 2016).

Yadin, Cave of Letters: Y. Yadin, The finds of the Bar-Kokhba Period in the Cave of Letters (Jerusalem 1963).

 

Bildnachweise:

1, 4a-b, 5: Gisela Michel; 2: Detail aus: Audollent, Martres-de-Veyre, Pl. VII Nr. 12; 3a-i: Raymund Gottschalk.

Kommentare

Keine Kommentare

Kommentar schreiben

* Pflichtfelder müssen ausgefüllt werden