Kein König im Grab

Der kleine Ort Enzen in der Eifel kann gleich zwei der reichsten römischen Gräber aus Nordrhein-Westfalen für sich verbuchen. Das erste, um das es hier geht, soll bereits um das Jahr 1663 gefunden worden sein. Es ist damit einer der frühesten archäologischen Funde in der Region, von dem noch Objekte erhalten sind.

Der Fund des 17. Jahrhunderts, ein Sarkophag aus Stein (Abb. 1), wurde in einer Zeit entdeckt, als man Objekte aus der Römerzeit und aus dem frühen Mittelalter noch nicht sicher unterscheiden konnte.

Beschreibungen der verlorenen Beigaben haben sich im Volksmund lange gehalten und wurden im 19. Jahrhundert notiert.

Der älteste schriftliche Bericht stammt von einem Dr. Hennes mit dem Titel „Ferienreise“ im Beiblatt zur Kölnischen Zeitung vom 11. Februar 1838, er handelt von einem Besuch in Enzen vom 29. Dezember 1837. Zum Zeitpunkt dieser ersten schriftlichen Dokumentationen lag der Fund also über ein Jahrhundert zurück. Hennes notiert: „In diesem Dorfe [Enzen] ist gegen das Ende des siebenzehnten Jahrhunderts beim Bau eines neuen Stalles, zu dem man das Fundament legen wollte, ein schwerer Sarg gefunden worden. Er ist noch in dem Stalle zu sehen, wo er als Trog dient. Er ist plump behauen, wie in Eile gemacht, von sehr hartem Sandstein; man sieht noch, wo die eisernen Klammern des Deckels eingetrieben waren, in diesem Sarg lag ein Geripp (das beim Oeffnen zu Asche zerfiel) in ganz goldner Rüstung: goldner Harnisch (28 Pfund schwer, wie man mir versichert), goldne Krone, goldnes Scepter, goldner Helm, goldne Beinschienen, unter Haupt und Füßen ein goldner Teller. - 'Alles wie ein König oder Feldherr', wie der Pächter Steinhausen hinzusetzte, der mir den Sarg zeigte und Alles sehr genau angab, durchaus übereinstimmend mit den Nachrichten, die ich von verschiedenen Seiten eingezogen hatte.“ Ergänzend gab es noch Hinweise auf Münzen und weitere Ringe. Die Überlieferung mag dadurch unterstützt worden sein, dass der Steinsarg vor Ort verblieben ist und die Geschichte daher präsent war und immer wieder erzählt worden ist.

 

In der Folge hat der überreiche Fund die Phantasie mächtig angeheizt. Einige frühe Forscher, wie etwa Johannes Freudenberg, der das Grab und die Beschreibung der Objekte in den Bonner Jahrbüchern im Jahr 1857 publizierte, haben vermutet, es handele sich um die Grablege eines fränkischen Königs. Allerdings enthalten historische Anekdoten manchmal auch einen falschen Kern, und die Zuweisung zu einem Herrscher der Franken ist forschungsgeschichtlich seit langem überholt. Die beiden noch heute in Privatbesitz erhaltenen Objekte sind nämlich eindeutig dem römischen Frauenschmuck der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. zuzuweisen. Es handelt sich um einen Armreif und einen Kopfschmuck, ein so genanntes Scheitelband, beides aus Gold (Abb. 2).

 

Interessant ist, dass in der langen mündlichen Überlieferung in dem kleinen Ort Angaben enthalten sind, die als der wahre Kern der Geschichte einen realen Hintergrund haben können. So stimmt die Anzahl der Anhänger des Scheitelbandes mit der Zahl der Steine an der angeblichen Krone überein. Falls das Stück beim Schädel der Toten gefunden wurde, mag es durchaus als die Krone in die mündliche Tradition eingegangen sein.

 

Um wahre Kerne von Überlieferungen von sicheren Unwahrheiten zu unterscheiden, bedarf es einer kritischen, für mich als Wissenschaftler auch selbstkritischen, Herangehensweise. Was ist wahrscheinlich oder plausibel, was liegt wenigstens im Bereich des Möglichen, was ist eher abwegig? Für die übrigen angebliche Funde des Grabes sind wir auf Spekulationen angewiesen, die jedoch auf Vergleichen mit gut dokumentierten Frauengräbern aus der Region beruhen. Der Gedanke an eine Rüstung und einen Helm kann entstanden sein, wenn dünnwandige Metallteile zur Bestattung gehörten. Für ein römisches Frauengrab kommt hier Metallgeschirr in Frage. Wenn dieses korrodiert oder verformt war, ist die Bestimmung der Funktion für Laien nicht unbedingt einfach. Von Tellern ist in den alten Berichten schließlich sogar die Rede. Ein solches Vorkommen scheint nicht ausgeschlossen, so wurde 1977 in einem weiteren Enzener Frauengrab ein Waschbecken aus Silberblech geborgen. In der Überlieferung mögen aus einem oder mehreren derartigen Stücken dann ein ganzes Ensemble mit zusätzlichen Rüstungsteilen geworden sein.

Auch für einen weiteren der verlorenen Gegenstände wäre eine Erklärung möglich. Gelegentlich kommen in römischen Frauengräbern Spinnrocken vor, auf dem bei der Textilarbeit die Rohwolle befestigt wurde. Diese Spinnrocken oder Kunkel konnten aus teuren Materialien wie Bernstein bestehen oder mit Edelmetall überzogen sein. Einige Originalfunde wurden hier bereits in einem Blog vorgestellt (Schöne Spinnrocken – das Accessoire der perfekten Hausfrau! https://blog.afm-oerlinghausen.de/kilometerarbeit-roemische-spinnkunst-teil-2-von-3/). Bevor ihre Funktion geklärt werden konnte, sind solche Kunkeln auch als Zepter gedeutet worden, wie es im Bericht erwähnt ist.

Frauen enthalten gelegentlich Kästchen ins Grab, die mit länglichen Metallblechen verziert sind. Rein hypothetisch könnten solche Kästchenbeschläge als Beinschienen interpretiert worden sein. In Kästchen wurden auch Münzen und Schmuck aufbewahrt. Außerdem kennen wir aus reichen Bestattungen Messer mit Griffen, die mit Goldblech verziert sind. Falls so ein Stück entdeckt wurde, konnte es sich in Phantasie und Überlieferung zum Fund eines goldenen Schwertgriffes wandeln. Wenn wir also auch nach wie vor nichts Sicheres über die verlorenen Beigaben wissen, so lassen sich doch wenigstens qualifizierte Vermutungen über einzelne Stücke anstellen. Deutlich wird dadurch immerhin, dass sich keinerlei Verdachtsmomente für ein Männergrab ergeben. Die Beschreibung des Inventars lässt sich widerspruchsfrei mit Funden aus Frauenbestattungen erklären.

 

Die Entdeckung zog ein menschliches Drama nach sich, wie Freudenberg schreibt: „Kaum war der kostbare Schatz gehoben, so kam, wie die Überlieferung einstimmig berichtet, großes Leid und Unglück über das Haus des Finders. Mochte er vielleicht versäumt haben, von den Funden sofort der Behörde die schuldige Anzeige zu machen, oder mochte durch die beim Ausgraben anwesenden Knechte ein entstellter Bericht zur Öffentlichkeit gelangt sein, sowohl er als seine Ehefrau wurden verhaftet und auf vier Monate nach Jülich ins Gefängnis geführt; nach einer anderen Version soll die Haft sogar zwei ganze Jahre gedauert haben. Die Fundstücke, zu deren Auslieferung der Finder nach einem so formellen Verfahren, welches aber in der damaligen Praxis begründet gewesen sein mag, gezwungen wurde, kamen zunächst nach Mannheim, dem Sitz der kurpfälzischen Regierung, und sollen von dort weiter nach München oder nach Wien gewandert sein.“

Bereits bei der Vorlage des Fundes in den Bonner Jahrbüchern von 1857 hatte Freudenberg in München aber keine Spuren desselben mehr nachweisen können, der Rest des Inventars war also bereits in dieser Zeit verschollen.

Der Bericht über das Schicksal der Funde ist nicht ohne historische Widersprüche. Falls der Fund tatsächlich schon ins Jahr 1663 datiert, war der Regent des Herzogtums Jülich-Berg Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg, der sich zeitweise in Neuburg an der Donau und zeitweise in Düsseldorf aufhielt. Er setzte 1679 seinen Sohn Johann Wilhelm als Regenten im Herzogtum ein. Kurfürst von der Pfalz wurde Philipp Wilhelm allerdings erst 1685, nach seinem Tod 1690 erbte Johann Wilhelm die Kurwürde. Johann Wilhelms Residenzstadt war bis zu dessen Ableben im Jahr 1716 Düsseldorf. Erst sein Bruder und Amtsnachfolger Karl Philipp verlegte die Residenz zunächst nach Heidelberg und erst 1720 nach Mannheim. Dessen Nachfolger Carl Theodor erbte 1777 die Bayrische Kurwürde, er residierte danach in München. Zahlreiche bedeutende Kunstwerke, die Johann Wilhelm erworben hatte, gehören dort heute zum Grundstock der Alten Pinakothek. Wenn nach dem Bericht von einer Überführung des Grabinventars zum Sitz der kurpfälzischen Regierung nach Mannheim und später nach München oder Wien die Rede ist, gibt dies also politische Entwicklungen wieder, die deutlich nach dem Jahr 1663 liegen.

Kurfürst Johann Wilhelm war übrigens ausgesprochen kunstinteressiert und ein begeisterter Sammler. Am 11. April 1707 gab er einen Erlass heraus, nachdem auch archäologische Bodenfunde aus seinem Herrschaftsgebiet abzuliefern seien. Eine wenig später verfasste Abschrift dieses Erlasses hat sich erhalten. Darin heißt es, dass (Textauszug nach E. v. Claer) „… ohne unterscheid der personen, einige medailles, statues oder sonsten andere antiquiteten an erz, wie es namen haben moege, stein, erden oder anderen geschirr, urnen, grabstein, lampen, allerhand instrumenta sacrificalia et chyrurgica, ringe und was dergleichen mehr erfinde oder vorrathig haben werde … unverzüglich getreulich bei straf höchster ungnade einliefern sollen …“ . Die Goldfunde aus Enzen hätten zu dieser Zeit abgeliefert werden müssen. Es darf wohl als Glücksfall gewertet werden, dass dies nicht geschah, auch die letzten beiden Objekte wären sonst dem Rheinland verloren gewesen und heute vielleicht ebenfalls endgültig verschollen.

 

Nun ist also in dem Sarg von 1663 kein König begraben gewesen. Wir dürfen uns aber dennoch fragen, zu welchem Personenkreis die Bestattete gehört hat. Die Datierung der beiden Gräber aus Enzen führt uns in eine sehr bewegte Zeit, die für die römischen Provinz Niedergermanien einen außerordentlichen politischen Einschnitt mit sich brachte. Im Verlauf des 3. Jahrhunderts erlebte das römische Reich verschiedene Krisen. Auch germanische Stämme am Rhein stellten eine große Bedrohung dar. Als Reaktion darauf kamen der römische Kaiser Valerianus und dessen Sohn und Mitregent Gallienus mit einem Heer nach Niedergermanien. Valerianus musste sich später an der Ostgrenze des Imperiums mit den Persern auseinandersetzen, er erlitt eine Niederlage und starb dort in persischer Kriegsgefangenschaft. Gallienus bezog zeitweilig in Köln Quartier und richtete hier auch eine Münzstätte ein, um den Sold für seine Armee prägen zu lassen. Im Jahr 260 riefen die Soldaten in Abwesenheit des Kaisers nach einem Sieg über eingedrungene Germanen einen hochrangigen Militär mit Namen Postumus zum Gegenkaiser aus. Für einige Jahre war Köln dann Hauptstadt des so genannten Gallischen Sonderreiches, das weite Teile im Westen des Imperiums umfasste (Abb. 3).

 

In dieser Zeit lassen sich in Köln und dem zur Stadt gehörenden Umland überdurchschnittlich viele, sehr reich ausgestattete Frauengräber nachweisen. Die Frauen erhielten dann Beigaben wie Goldschmuck, Bernsteinobjekte und manchmal auch exquisites Tafelgeschirr wie Gefäße aus Silber, Halbedelsteinen oder besonders aufwändig verziertem Glas. Es kommt dabei nicht nur auf den materiellen Wert der Objekte an, sondern vor allem auf den damit ausgedrückten gehobenen Lebensstil. Manchmal, wie in Enzen, sind mehrere Personen auf einem kleinen Gräberfeld so gut ausgestattet. Daraus lässt sich ableiten, dass ganze Familien in einem relativ kurzen Zeitraum ein besonderes Repräsentationsbedürfnis entwickelten.

Die interdisziplinäre Betrachtung von historischer Situation und archäologischem Befund liefert eine schlüssige Erklärung für das Phänomen der reichen Gräber der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts im Umland von Köln. Es handelt sich um Familienangehörige aus der städtischen Oberschicht und solche von Offizieren der im Rheinland stationierten Armee. Diese Personengruppen waren durch die Anwesenheit von Kaisern in Köln plötzlich in die Nähe des Herrscherhauses gerückt. Ein solches gestiegenes gesellschaftliches Ansehen wollten sie auch bei der Bestattung zum Ausdruck bringen.

Das Gallische Sonderreich hat übrigens nicht lange existiert, nach der Ermordung des Postumus im Jahr 269 konnte sich kein Nachfolger lange halten. Der letzte Sonderkaiser Tetricus ergab sich nach einer Schlacht 274 dem legitimen Herrscher Aurelian, der das Leben des Usurpators verschonte. Auch die Parteigänger der Sonderkaiser im Kölner Umland mussten offenbar nicht zwangsläufig mit schlimmen Folgen für sich rechnen. Die Sitte der reichen Grabfunde am Rhein endet nämlich nicht abrupt, sondern klingt bis zum Ende des 3. Jahrhunderts mit der Generation, die das Sonderreich erlebt hat, langsam aus. Dass sich der hier vorgestellte Grabfund dieser gesellschaftlichen Gruppe zuordnen lässt, ist einerseits der Weitergabe der goldenen Fundstücke in einer Familie, andererseits der mündlichen Tradierung der Fundgeschichte über Generationen zu verdanken.

 

 

 

Ausgewählte Literatur

 

H.-W. Böhme, Das sogenannte Königsgrab von Enzen. Führer zu vor- und frühgeschichtl. Denkmälern Bd. 26, II. Nordöstliches Eifelvorland – Exkursionen (Mainz 1974) 70–74.

 

E. v. Claer, Befehl des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz zur Sammlung von Alterthümern. Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 42, 1884, 179 f.

 

J. Freudenberg, Der alte Grabfund in dem sog. Königsgrabe zu Enzen unweit Zülpich. Bonner Jahrbücher 25, 1857, 122–139.

 

R. Gottschalk, Zur spätrömischen Grabkultur im Kölner Umland. Zwei Bestattungsareale in Hürth-Hermülheim. Erster Teil. Die Gräber und ihre Befunde. Bonner Jahrbücher 207, 2007, 211–298.

 

R. Gottschalk, Nach über 300 Jahren: neue Ansätze zu einem reichen römischen Grab in Enzen. Archäologie im Rheinland 2011, 123–125.

 

 

Abbildungsnachweise: Abb 1 Wikipedia, Autor Chris06; Abb. 2 nach Freudenberg (siehe Literatur); Abb. 3 Wikipedia, Autor Veleius.

 

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