Geschichtsverfälschung "für den guten Zweck"?

Als Teil der Darstellerkombi "In Foro – Städtisches Leben um 1300" bin ich seit 5 Jahren in meiner Freizeit in Museen und auf Living-History-Veranstaltungen tätig und betreibe seit 1 1/2 Jahren einen Blog über das Leben im Mittelalter. Mein wichtigstes Anliegen dabei ist es, über populäre Mythen, Missverständnisse und Klischees aufzuklären, die das Geschichtsbild der meisten Menschen prägen.
Vor Allem geht es mir um den Mythos vom "finsteren Mittelalter" in all seinen Ausprägungen, dem ich versuche, ein Bild entgegenzustellen, das die Epoche nicht romantisch verklärt, aber sie als ein komplexes, vielschichtiges Jahrtausend europäischer Geschichte mit Licht, Schatten und vor allem unzähligen Grautönen zeigt. Doch soweit unsere Überlieferung zurückreicht hat jeder Generation in der Vergangenheit vor allem Rechtfertigungen und Bestätigungen ihrer eigenen Überzeugungen, Ideale, Ängste, Welt- und Feindbilder gesucht. Hierfür war und ist es bis heute meist unwichtig, ob das jeweilige Geschichtsbild wissenschaftlich haltbar ist, sondern ob es ein bestimmtes Narrativ bedient und eine bestimmte Botschaft vermittelt. Insofern überrascht es nicht, dass viele Leute ablehnend bis aggressiv reagieren, wenn man nicht nur ihrem Geschichtsbild widerspricht, sondern damit auch alles in Frage stellt, was sie mit diesem Geschichtsbild verbinden.
Um eines der häufigsten Argumente, mit denen ich in solchen Diskussionen regelmäßig konfrontiert werde, soll es hier gehen:

"Ist die sprichwörtliche Moral von der Geschicht´ nicht letzten Endes wichtiger, als die Frage, ob die Geschicht´ überhaupt wahr* ist?"

Wen kümmert es, ob die Kirche im Mittelalter wirklich die Wissenschaft unterdrückt und Kräuterfrauen als Hexen verbrannt hat, wenn man mit dieser Erzählung ein deutliches Zeichen gegen religiösen Fanatismus setzen kann? Wen kümmert es, ob die einfache Bevölkerung wirklich in Dreck, Armut und Hunger lebte, wenn man mit dieser Erzählung ein starkes Zeichen für soziale Gerechtigkeit setzen kann? Wen kümmert es, ob bei den Wikingern wirklich Frauen gleichberechtig als "Schildmaiden" mit in den Kampf gezogen sind, wenn man damit ein Zeichen für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern setzen kann?

Ich bin durchaus der Ansicht, dass sich aus der Geschichte wichtige Lehren für die Gegenwart ziehen lassen. Allerdings bin ich ebenso der Ansicht, dass die Lehre, die ich aus der Geschichte ziehe, von den historischen Tatsachen geformt werden muss und nicht die Geschichte so umgeformt werden darf, dass sie zur gewünschten Lehre passt!
Drei Hauptargumente sprechen meiner Ansicht nach gegen die Behauptung, die Botschaft eines Geschichtsbildes sei wichtiger, als die Frage, ob es der Wahrheit entspricht:

Zum Ersten komme ich nicht umhin, daran zu zweifeln, ob Leute, die meinen, ihre Überzeugungen mit erfundenen oder verfälschten Geschichten begründen zu müssen, wirklich so überzeugt sind, wie sie glauben oder behaupten. Wenn ich der festen Überzeugung bin, dass meine Ansichten "gut" und "richtig" sind, dann muss ich doch auch ebenso fest überzeugt sein, dass die belegbaren Fakten sie bestätigen werden! Wenn ich es aber für nötig halte, die Beweise für meine Ansichten erfinden oder zumindest verändern zu müssen, muss ich selbst Zweifel an ihrer Richtigkeit haben.
Zum Zweiten kann ein Geschichtsbild, das ganz oder in Teilen frei erfunden oder zumindest grob verfälscht (und meist vereinfacht) ist, selbstverständlich eine gewisse "Moral" oder "Lehre" vermitteln, so wie jede andere fiktive Erzählung auch. Dafür verschenkt man aber etwas, was nur die reale Geschichte bietet: Die Möglichkeit, aus all den kleinen und großen Zusammenhängen und Wechselwirkungen zu lernen und zu verstehen, warum die Dinge so waren, wie sie waren.
Ich will mit einem Beispiel erläutern, was ich meine: Die beliebte Erzählung von der Katholischen Kirche, die angeblich "weise Frauen" als Hexen verbrannte, um das von ihnen gehütete germanisch-heidnische Heilwissen zu unterdrücken, mag eine starke Botschaft gegen religiösen Fanatismus transportieren. Die wissenschaftlich belegte Version der Hexenverfolgung hingegen erlaubt uns, ihre komplexen Ursachen zu verstehen: Der Hexenwahn ging nicht von der Kirchenführung aus, sondern von der Bevölkerung selbst, die angesichts der wirtschaftlichen, klimatischen und sozialen Krisen am Beginn der frühen Neuzeit einfache Erklärungen für ihre Probleme und Sorgen und ein Ventil für ihre Unzufriedenheit und Wut suchte und schließlich in jenen fand, die ohnehin am Rande der Gesellschaft standen.
Einzelne lokale Machthaber unterstützten diese Entwicklung, die den Volkszorn von ihnen selbst auf einen nützlichen Sündenbock lenkte und es ihnen ermöglichte, als Beschützer des Volkes vor der Bedrohung durch die Hexen aufzutreten, während die Kirchenführung in Rom versuchte, den Wahn einzudämmen. Dieses wesentlich komplexere Bild ermöglicht uns, die Hexenverfolgung mit anderen historischen Fällen zu vergleichen, in denen Krisenzeiten mit der Verfolgung von Minderheiten und Randgruppen einherging, welche Faktoren diese Entwicklung jeweils begünstigten und welche ihr entgegenwirkten und idealerweise sogar zu lernen, wie wir heute ähnliches Verhindern können.
Dieser Gelegenheit berauben wir uns, wenn wir das komplexe Geflecht der Geschichte durch einen geradlinigen, auf die gewünschte Moral von der Geschicht´ ausgerichteten Erzählstrang reduzieren und dadurch die vielen kleinen Lehren, die wir aus Ersterer ziehen können, durch eine große aber flache und einseitige Botschaft ersetzen.
Zum Dritten und Wichtigsten aber ist die Vergangenheit schlicht und ergreifend nicht dafür da, moderne Weltanschauungen, Ideale und Feindbilder auf sie zu übertragen, um diese so zu legitimieren.
Wie der von mir sehr geschätzte Historiker Adam Nawrot vor kurzem sagte: "Wir müssen das Richtige nicht deshalb tun, weil es früher schonmal so gemacht wurde, sondern weil es richtig ist!"

(*Es liegt in der Natur jedweder Wissenschaft, keine mit hundertprozentiger Sicherheit "wahren" Antworten geben, sondern lediglich die auf Basis aller zur Verfügung stehenden Informationen aktuell wahrscheinlichste Antwort ermitteln zu können.
Wenn in diesem Text Begriffe wie "wahr" oder "historische Tatsachen" verwendet werden, ist damit eben jenes nach dem aktuellen Stand der Geschichtsforschung mit Abstand wahrscheinlichste Bild der Vergangenheit gemeint.)

 

Benjamin Lammertz

 

 

Die meisten der bis heute verbreiteten Mythen über das Mittelalter stammen aus dem 18ten und 19ten Jahrhundert.
Einer Zeit, in der die Romantiker im Mittelalter ihre Idealvorstellung einer starken geeinten Nation mit festgefügten Gesellschaftsstrukturen und unverrückbaren moralischen Werten gespiegelt sehen wollten, während die Aufklärer alles, was sie bekämpfen und überwinden wollten, Ignoranz, Rückständigkeit, Dogmatismus und Barbarei, auf das Mittelalter und vor allem die katholische Kirche des Mittelalters als praktisches Feindbild übertrugen.

Auf diesem Holzschnitt von 1888 sehen wir die ebenso verbreitete wie falsche Vorstellung, die Menschen des Mittelalters hätten die Erde für eine Scheibe gehalten.

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