Fakes und fauler Zauber

Als ein großer religiöser Schwindler der Antike gilt heute Alexander von Abonuteichos. Alexander lebte und wirkte im 2. Jahrhundert n. Chr. in besagter Stadt Abonuteichos, dem heutigen İnebolu an der Schwarzmeerküste im Norden der Türkei. Den zweifelhaften Ruf als außergewöhnlicher Scharlatan seiner Epoche verdankt er dem Schriftsteller Lukian. Dieser verfasste die Satire „Alexander oder der Lügenprophet“. Die Bezeichnung als Prophet weist auf dessen Metier, denn Alexander richtete mit viel Kreativität einen sehr erfolgreichen Kult um die Glykon-Schlange (Abb. 1) ein, als deren oberster Priester er sich selbst installierte. Außerdem kannte Lukian den ‚falschen Propheten‘ nach eigener Auskunft selbst als skrupellosen Machtmenschen.

Das Projekt der Religionsgründung war von langer Hand vorbereitet. Ein wichtiger psychologischer Kniff war gewissermaßen die Herstellung eines archäologischen Fakes: Mit einem Komplizen fertigte der zukünftige Priester auf alt gemachte Tafeln, die die bevorstehende Ankunft der Gottheit prophezeiten. Diese Fälschungen – in einem Tempel in der Stadt Chalkedon versteckt und publikumswirksam aufgefunden – sorgten für eine große Erwartungshaltung. Wichtiger noch war die Herstellung des Gottes selbst. Dieser wurde als Nachkomme des Heilgottes Asklepius vorgestellt, welcher von einer Schlange begleitet wird. Die neu aufzufindende Gottheit hatte demzufolge die Form einer Schlange mit einem menschenähnlichen Kopf. Für ein solches, zahmes Kriechtier beträchtlicher Größe hatte Alexander ebenso gesorgt wie für einen künstlichen Kopf, dessen Mund und gespaltene Zunge wie bei einer Marionette mit Fäden aus Pferdehaar bewegt werden konnten. Nach der geschickt inszenierten Auffindung des ‚Neuen Asklepius‘ – einer winzigen Schlange in einem präparierten Gänseei – konnte er sich schon wenige Tage später mit dem wunderbar zu voller Größe gewachsenen und bereits mit dem unechten Haupt versehenen Exemplar zeigen. Sogar das Berühren des Reptils war erlaubt. Da dies alles aber nur in einem abgedunkelten Raum geschah, war die Vorstellung überaus glaubhaft.

Um Glykon entstand in der Folge ein Kult und ein sehr erfolgreiches Orakelwesen, gestützt auf ein Ambiente von Rätseln und Wundern. Die Gläubigen reichten verschlossene und versiegelte Schriftstücke mit Anfragen ein und erhielten nach einer Bezahlung ihren ungeöffneten Text mit der passenden Antwort zurück. Lukian überliefert, wie dieses Mirakel auch ohne göttliche Hilfe geschehen konnte. Alexander öffnete die wächsernen Siegel vorsichtig mit Hilfe einer heißen Nadel und verschloss sie nach der Lektüre auf die gleiche Weise wieder. Auch fertigte er eine aushärtende Masse an, mit der er bei Bedarf die Siegelabdrücke kopieren und nach dem Öffnen wieder neu anfertigen konnte. Da der Prophet gute ärztliche Kennnisse hatte, beantwortete er medizinische Fragen aus eigenem Wissen. Zahlreiche Informanten trugen ihm nützliche Hinweise bezüglich der Ratsuchenden und deren Anfragen zu und berichteten weithin, dass er Wunder vollbringen könne. Besucher reisten von weither, auch aus Rom, an. Besonders wichtige oder zahlungskräftige Gäste erfuhren die göttlichen Botschaften sogar aus dem Mund der Glykon-Schlange selbst. Dazu hatte Alexander ein Sprachrohr aus den Gurgeln von Kranichen gebastelt, das in den künstlichen Schlangenkopf führte und durch welches ein Gehilfe, natürlich versteckt, während der Audienzen Botschaften verkünden konnte. Fairerweise muss gesagt werden, dass Alexander offenbar tatsächlich eine charismatische Persönlichkeit mit vielen Fähigkeiten war, sonst hätte er sein Orakel kaum derart erfolgreich aufbauen und unterhalten können.

Es war in der Antike auch nicht ungewöhnlich, den Glauben der Menschen durch geeignete Effekte zu unterstützen. Bezeichnenderweise sind es oft die religiösen Konkurrenten, die ein Interesse daran haben, einen frommen Schwindel auffliegen zu lassen. Der römische Bischof Hippolyt berichtet einige Jahrzehnte nach Lukian, wie heidnische Magier einen künstlich gemachten Schädel mit Hilfe einer ganz ähnlichen Röhre zum Sprechen bringen können. Der im 5. Jahrhundert schreibende Kirchenhistoriker Theodoret von Cyrus überliefert, wie der Bischof Theophilus von Alexandria einen Betrug in einem Tempel aufdeckte, bei dem die heidnischen Gottheiten ebenfalls mit einem heimlichen Bühnenzauber zu einer Stimme gekommen waren (Theodoret, Kirchengeschichte 5,23. Übersetzung nach Seider): „[Er] enthüllte auch den Betrogenen die Kunstgriffe der sie betrügenden Priester. Sie machten nämlich die ehernen und hölzernen Götterstatuen inwendig hohl, fügten deren Rückseiten fest an die Mauer an, ließen aber in der Mauer einige unbemerkbare Gänge. Dann gingen sie durch das dem Volke unzugängliche Heiligtum, begaben sich in den inneren, hohlen Raum der Götterstatuen und befahlen durch diese, was ihnen beliebte.“

Eine solche Geheimhaltung war aber wohl nicht immer beabsichtigt. Der Erfinder Heron von Alexandria hat in seinem Werk „Pneumatica“ eine Reihe von Apparaten beschrieben, von denen einige in Heiligtümern aufgestellt werden konnten. Ein Opfergefäß, sozusagen der Stammvater aller Verkaufsautomaten, spendete den Gläubigen erst nach dem Einwurf einer Münze Wasser. Das Geldstück fiel unsichtbar im Inneren zunächst auf einen Hebel, der sich senkte und dadurch den Verschluss des Wasserspenders öffnete. Bei Herabsinken des Hebels fiel die Münze irgendwann herunter und der Spender schloss sich wieder (Heron, Pneumatica 21 – Abb. 2). Wenn auch nicht jeder potentielle ‚Kunde‘, so erfuhren doch wenigstens die Leser des Werkes etwas über die Wirkungsweise des Gerätes. Übrigens hat Heron auch einen luftdichten Altar mit einem automatischen Weinopfer (Libation) und einer zischenden Schlange ersonnen. Vor dem Entzünden des Altarfeuers wurden die innen liegenden Röhren mit Wasser gefüllt. Durch die Hitze entstand Dampf und Heißluft und somit ein Überdruck. Der Druck beförderte einerseits den Wein über eine Röhre in die Opferschale einer Statue, der Rest entwich geräuschvoll durch die Schlange (Heron, Pneumatica 60 – Abb. 3). Allerdings lässt sich keine Verbindung zwischen dieser Vorrichtung und der Verehrung der Glykon-Schlange herstellen.

Lukian skizziert ein sehr differenziertes Bild davon, mit welchen Methoden der ambitionierte Prophet seinen Einflussbereich erweiterte und verteidigte. Dies ging über die Fälschung der Göttererscheinung weit hinaus. Alexander gab sich selbst als Enkel des Asklepios aus, verglich sich mit dem bekannten Philosophen Pythagoras und verkündete, seine Tochter mit der Mondgöttin gezeugt zu haben. Damit hat er sich mit seiner Familie selbst in die religiöse Sphäre gestellt. Ein politisches Netzwerk knüpfte er, indem er besagte Tochter mit dem einflussreichen römischen Konsul Rutilianus verheiratete. In der Öffentlichkeit zeigte er sich als begnadeter Selbstdarsteller mit manchmal schillerndem Auftreten, der aus bekannten religiösen Riten einen aufwändigen Kultus um Glykon und sich selbst gestaltete. In mehrtägigen Kulthandlungen mit Fackelaufzügen, Theater und mystischen Tänzen thematisierte er seine intensive Verbindung zur göttlichen Sphäre und band so die Gemeinschaft seiner Gläubigen an sich. Dabei schloss er regelmäßig lautstark sowohl die Anhänger der ihm unliebsamen Philosophie der Epikuräer wie auch die Christen von seinen Versammlungen aus. So polarisierte er die Gesellschaft. Wer das Missfallen des Propheten erregte, dem wurde das Orakel öffentlich verweigert. Diese Person wurde dadurch bei den Anhängern des Kultes zum gesellschaftlichen Paria. Alexander konnte sich im Kreis seiner Gefolgsleute so sicher fühlen, dass er ein grundlegendes Lehrwerk des Epikur auf dem Markt verbrannte. Einen Epikuräer, der eins der Orakel öffentlich als fehlerhaft dargestellt hatte, wollte Alexander durch seine Bewunderer steinigen lassen. Nur das couragierte Eingreifen eines prominenten Passanten konnte dies verhindern. Selbst die eigenen Gläubigen waren vor ihm nicht sicher. Wenn jemand in den Orakelanfragen persönliche Geheimnisse preisgegeben hatte, musste diese Person mit Erpressung rechnen. Mit seinen Weissagungen griff der Prophet auch in die Politik ein. Lukian bemerkt, dass Ratschläge des Orakels zu wichtigen Feldzügen nicht die gewünschten Erfolge, sondern bittere Niederlagen für die Römer zur Folge gehabt hätten. Solche und andere Voraussagen, die nicht eingetroffen waren, ließ Alexander wenn möglich im Nachhinein verändern oder anders interpretieren.

Alexander kannte Lukian als Kritiker, die beiden pflegten wohl schon über einen längeren Zeitraum eine Feindschaft. Für den Schriftsteller wäre ein persönlicher Besuch beim Propheten des Orakels in Abonuteichos beinahe schlecht ausgegangen. Lukian brüstet sich mit einem Affront, er gibt an, Alexander beim erwarteten Handkuss anlässlich der Begrüßung gebissen zu haben. Dessen Anhänger wollten daraufhin gewalttätig werden, doch der Priester des Glykon beruhigte die Situation mit der Bemerkung, er könne den Widersacher bekehren. Der Schriftsteller merkte wohl, dass er sich tatsächlich in Gefahr befand und lenkte, wie er angibt zum Schein, ein. Alexander tat zwar auch so, als ob er ihm glaubte und verabschiedete ihn mit Geschenken, gab aber der Besatzung seines Reiseschiffes einen Mordauftrag mit. Nur der Einsatz des Schiffsführers verhinderte schließlich, dass Lukian auf hoher See über Bord geworfen wurde. Seine Anzeige beim zuständigen Statthalter der Provinz wurde niedergeschlagen. Alexander war bereits zu mächtig geworden, um durch eine juristische Klage angreifbar zu sein. Der Kult des Glykon erreichte eine überregionale Bedeutung und bestand nach dem Tod Alexanders weiter. Dass die Religion auch politisch anerkannt war, zeigen Münzen, die den aktuell regierenden Kaiser auf der Vorder- und die Schlange mit dem menschenähnlichen Kopf auf der Rückseite tragen.

Es darf nicht verschwiegen werden, dass Lukian seine Schrift über den ‚Lügenpropheten‘ sehr vielschichtig anlegt. Vieles ist reine Polemik, satirisch verzerrt, manches wohl auch ganz erfunden. Hier wurden nur einige Gesichtspunkte aus der umfangreichen Geschichte angesprochen. Die geschilderte Mischung von Alexanders Methoden zur Steigerung seines gesellschaftlichen, religiösen und politischen Einflusses ist deshalb so interessant, weil sie eine eindrucksvolle innere Plausibilität entwickelt. Der gezielte Einsatz von Fälschungen und Schwindeleien, die Arbeit mit Agenten, Stigmatisierung von Menschen anderer Glaubensrichtung, Manipulationen des Publikums, Bücherverbrennungen, Aufstachelung einer gewalttätigen Anhängerschaft, Mordaufrufe und das Ausspielen politischer Kontakte zur Unterdrückung von Gerechtigkeit sind Machtmittel, die bis heute nichts von ihrer Wirksamkeit verloren haben.

Deutsche Übersetzungen

A. Pauly, Alexander oder Der Lügenpropet. Lucian’s Werke. Siebtes Bändchen (Stuttgart 1827) 819-862. https://de.wikisource.org/wiki/Alexander_oder_der_L%C3%BCgenprophet

Alexander oder Der falsche Prophet. In: H. Floerke, Lukian Sämtliche Werke. Bd. 3, 14-58 (München/Leipzig 1911)

U. Victor, Alexandros oder der Lügenprophet. Religions in the Graeco-Roman world 132 (Leiden 1997)

Verwendete sonstige Quellen

B. Woodcroft (Übersetzung), The Pneumatics of Hero of Alexandria (London 1851)

A. Seider (Übersetzung), Des Bischofs Theodoret von Cyrus Kirchengeschichte. Bibliothek der Kirchenväter 51 (München 1926)

Ausgewählte Literatur

A. Chaniotis, Wie (er)findet man Rituale für einen neuen Kult? Recycling von Ritualen – das Erfolgsrezept Alexanders von Abonouteichos. Forum Ritualdynamik 9, 2004 (online, abgerufen am 8. 1. 2019): http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/5103/1/ChaniotisAlex.pdf

J. Gerlach, Die Figur des Scharlatans bei Lukian. In: P. Pilhofer u. a. (Hrsg.), Lukian. Der Tod des Peregrinos. Sapere IX (Darmstadt 2005) bes. 175-185 zu Alexander von Abonuteichos.

D. Hansen, Lukians Peregrinos: Zwei Inszenierungen eines Selbstmordes. In: Pilhofer 2005, 129-150 bes. 139-143 zu Alexander

Weblinks

Übersetzung Heron: http://himedo.net/TheHopkinThomasProject/TimeLine/Wales/Steam/URochesterCollection/Hero/index-2.html

Übersetzung Theodoret: https://www.unifr.ch/bkv/kapitel2090-22.htm

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