Einen zur Brust nehmen…

Was symbolisiert die Hitze des Monats August besser als ein trinkender Mann? Kopien aus der frühen Neuzeit zeigen, was ein unbekannter spätantiker Künstler als idealtypisch für die Jahreszeit befand. Ein unbekleideter Jüngling hält mit beiden Händen eine große gläserne Trinkschale. Sein Kinn ist durch das Material hindurch sichtbar. Vor ihm steht auf dem Boden ein großes Gefäß mit zwei Henkeln, sodass für Nachschub gesorgt ist. Auf der anderen Seite liegen drei Melonen. Hinter dem Trinkenden hängt ein Fächer aus Pfauenfedern, auf der anderen ein verziertes Kleidungsstück.

Das Original des entsprechenden Kalenderblattes aus dem Jahr 354 ist leider verloren. Es existieren aber immerhin mehrere Abzeichnungen, die in wesentlichen Elementen übereinstimmen. Danach lassen sich auch einzelne Gegenstände näher interpretieren. Die Federn des Fächers, der übrigens flabellumgenannt wurde, sind anhand der großen Flecken als Pfauenfedern zu erkennen. Solche großen Fächer waren nicht nur ein praktisches Utensil zur Linderung der größten Hitze, sondern auch ein Statussymbol. Selbst bei heiligen Handlungen fanden sie Verwendung. Nach den „Constitutiones Apostolorum" (Buch 8,12) aus dem 4. Jahrhundert sollten zwei Diakone neben dem Altar mit einem Fächer dafür sorgen, dass während der Messe keine Insekten in den Kelch des Priesters fallen sollten. Das Gefäß mit zwei Henkeln ist ein so genannter gillo, der zum Kühlen von Wasser verwendet werden konnte. Die Inschrift hat der Kopist offenbar missverstanden, hier stand im Original wohl der Trink- und Segensspruch ZESES („Du mögest leben").

Die Haltung des jungen Mannes zeigt sehr anschaulich, wie Trinkschalen in der Spätantike benutzt werden konnten. Größere Exemplare, die auch aus archäologischen Funden bekannt sind, mussten in beiden Händen gehalten werden. Sie wären beim Trinken mit nur einer Hand etwas schwer und unhandlich gewesen, und die Gäste hätten darüber hinaus zum sicheren Festhalten immer ihre Daumen in den Wein stecken müssen. Allerdings zeigt der Blick aufs Bild, dass das Trinken mit zwei Händen auf Dauer keine sehr behagliche Körperhaltung erlaubt. Natürlich stellt sich auch die Frage: wohin mit der Schale in einer Pause? Die antike Tafelkultur hat für beide Herausforderungen eine Lösung gefunden. Die Trinkschalen konnten beim gemeinschaftlichen Gelage unter den Gästen herumgereicht werden.

Eine schöne Beschreibung dazu liefert der spätrömische Schriftsteller Sulpicius Severus, der einen Besuch des heiligen Martin bei dem Kaiser Magnus Maximus in Trier schildert (Vita Mart. 20, zitiert nach der Übersetzung von Bielmeier S. 44): „Die Tafel war ungefähr halb vorüber, da reichte der Diener der Sitte gemäß dem Kaiser die Trinkschale. Dieser befahl, man solle die Schale lieber dem heiligen Bischof reichen, denn er brannte vor Verlangen, sie aus der Hand des Martinus zu empfangen. Indes Martin trank und gab dann die Schale seinem Priester". Das Herumreichen der Schalen ist also nichts außergewöhnliches, sondern wird als der Sitte gemäß bezeichnet und damit als Teil eines gesellschaftlichen Habitus als allgemein bekannt vorausgesetzt. Die Erzählung ist natürlich stark ideologisch eingefärbt und betont, dass dem Heiligen ein Kleriker wichtiger ist als der Vertreter der weltlichen Macht. Abgesehen davon wird aber sehr deutlich, dass mit dem Herumreichen der Schalen zusätzlich auch gesellschaftliche oder persönliche Wertvorstellungen zum Ausdruck gebracht werden konnten.

In spätrömischen Fundzusammenhängen sind Trinkschalen weit verbreitet, und auch im frühen Mittelalter kommen sie noch vor. Die Fundstücke selbst können ebenfalls etwas über die Nutzung aussagen. So stehen auf einigen Exemplaren mit eingeritzten Verzierungen Trinksprüche wie VIVAS CVM TVIS („Lebe mit den Deinen). Beschriftungen wie BIBE ET PROPINA TVIS („Trinke und reiche den Deinen weiter") beziehen sich sogar ganz explizit auf das Herumreichen bzw. das einander Zutrinken bei der Tafel. Im Kölner Raum ist im 4. und 5. Jahrhundert eine Grabsitte bekannt, bei der Frauen und Männern Trinkschalen sozusagen griffbereit mit dem Boden nach oben auf den Oberkörper gelegt worden sind. Die Verstorbenen sind so bestattet, als hätten sie ein letztes Mal in geselliger Runde getrunken oder könnten im Jenseits gleich mit einem solchen Umtrunk beginnen. Vereinzelt wurde diese Sitte bis nach Mainz, Trier oder Krefeld-Gellep beobachtet. Es ist aber in römischer Zeit nicht ungewöhnlich, dass manche Grabsitten nur regional ausgeprägt sind. Die Ausstattung mit Speisen und Getränken ist gerade im ländlichen Kölner Umland in der Spätantike manchmal recht üppig. Daher lassen sich in dieser Gegend auch unterschiedliche Bräuche in Gräbern beobachten, die in einem Zusammenhang mit dem Essen und Trinken stehen. Wir können daher feststellen, dass die aus Texten und von Bilddarstellung bekannte Nutzung von Trinkschalen nicht nur in den städtischen Zentren und in der Welt der Wohlhabenden verbreitet war, sondern auch in Provinzorten und selbst bei der Landbevölkerung. Die Befunde aus den Gräbern legen nahe, dass Teile der Tafelkultur und damit des antiken Lebensstils hier noch bis weit in die Spätantike hinein bekannt waren.

 

Raymund Gottschalk
 

Ausgewählte Literatur

Zu den Gegenständen auf dem Kalenderblatt zum August im so genannten Chronographen von 354 etwa J. Divjak/W. Wischmeyer (Hrsg.), Das Kalenderhandbuch von 354. Der Chronograph des Filocalus Bd. I (Wien 2014) 175 f.

M. Martin, Der Trierer Silberfund von 1628 und das Tafelsilber des 5. Jahrhunderts. In: M. Martin/A. Kaufmann-Heinimann (Hrsg.), Die Apostelkanne und das Tafelsilber im Hortfund von 1628. Trierer Silberschätze des 5. Jahrhunderts. Trierer Zeitschr. Beih. 35 (Trier 2017) 213-284 bes. 226 f.

Zur Trinkschale aus Krefeld-Gellep: R. Piring, Das römisch-fränkische Gräberfeld von Krefeld-Gellep 1964–1965. Germ. Denkmäler der Völkerwanderungszeit Ser. B. Bd. 10 (Berlin 1979) bes. 64 Taf. 62 f. und Taf. 136 (Grabskizze).

Zu Grabbefunden allgemein etwa R. Gottschalk, Die Schale auf der Brust. Bonner Jahrb. 206, 2006, 241-247.

 

Antike Quellen:

Die sogenannten Apostolischen Constitutionen und Canonen. Aus dem Urtexte übersetzt von Dr. Ferdinand Boxler. Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 19 (Kempten 1874).

P. Bihlmeier, Des Sulpicius Severus Schriften über den Hl. Martin. Bibliothek der Kirchenväter II 20 (Kempten 1914). 

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