Die Verbuchung des Antonius

Gedanken zum Namen des Tönsberges

Liebes Schnauzele,-
Hier ist nach wie vor ganz fabelhaft schönes Wetter. Gestern gegen Abend war ich auf dem Tönsberg u. rutschte nachher auf den 4 Buchstaben den gleichen "Weg" hinunter wie damals.


Brief von Max an Marianne Weber vom 3. 10. 1908

 

Max Weber weist uns wieder einmal den Weg: Manchmal müssen wir die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße beziehungsweise auf den Hintern setzen, damit die Erkenntnis besser rutscht. Dies gilt auch für den Namen des Tönsberges. Dieser wird seit dreieinhalb Jahrhunderten in zahllosen Veröffentlichungen auf den Heiligen Antonius zurückgeführt. Das liegt durchaus nahe, schließlich ist Tönnies eine Kurzform von Antonius. Die Verehrung dieses Heiligen boomte im Spätmittelalter, in das die ursprüngliche Kapelle auf dem Tönsberg datiert. Grund dafür war das Antoniusfeuer, eine massenhaft aufgetretene Erkrankung, die auf durch einen Schlauchpilz verseuchtes Getreide zurückzuführen ist. Auf die Therapie dieser Krankheit hatte sich der Orden der Antoniter spezialisiert. Im 16. Jahrhundert ging dann das Mutterkorn (so heißt die Überwinterungsform dieses Schlauchpilzes) aufgrund des wärmeren Klimas wieder zurück, der Orden verlor seine Grundlage. Nicht abwegig für die Namensgebung ist auch die Anwesenheit eines einsamen Mönchs auf dem Tönsberg, von dem man immer wieder hört. Eremitinnen und Eremiten hausten gerne in den frühgeschichtlichen Wallanlagen Ostwestfalens, so etwa im 10. Jahrhundert Thetwilf auf dem Wittekindsberg bei Minden oder Helmtrud auf der Iburg bei Bad Driburg. Wieso also nicht auch ein Antoniusmönch auf dem Tönsberg?
So wissen schon die Lippischen Intelligenzblätter in der Rubrik „Gelehrte Sachen“ vom 17. 3. 1784 zu berichten: „Unter den alten Ruinen, die man in der Grafschaft Lippe antrifft, sind die der Antonsklause, als besonders merkwürdig, billig mit zu betrachten. Sie finden sich auf dem östlichen Ende des sehr langen Rücken vom so genannten Tönsberge (Antonsberge)“. Also alles klar: Töns kommt von Anton. Der Intelligenzblattautor beruft sich dabei auf die Annales Paderbornenses von Nicolaus Schaten aus dem Jahr 1693.
 

Da alle Namensdeutungen des Tönsberges auf dieses eine Werk zurückgehen, lohnt sich ein etwas genauerer Blick: Der Jesuit Schaten war vom Paderborner Fürstbischof zur Abfassung einer Monumentalhistorie des Bistums beauftragt. Sieben Jahre saß Schaten an diesem Großprojekt, bis ihn der Tod 1676 überraschend hinwegraffte (Schaten war gerade bei seinen Aufzeichnungen zum Jahr 1546). Erst dreißig Jahre später wurde sein Opus gedruckt. Unter anderem aufgrund Schatens nahezu unleserlicher Handschrift hatten sich zahlreiche Fehler in den Prunkband eingeschlichen; zum Leidwesen von Generationen von Historikern. Auf Abbildung 2 ist die Seite der Annales Paderbornenses von 1693 abgelichtet, auf die sich alle beziehen. Erwähnt wird tatsächlich eine Antoniuswallfahrt aus Dortmund (ex urbe Tremoniensi), die bis 1548 ins Lippische geführt hat. Aber von Oerlinghausen ist dabei in keiner Silbe die Rede. Vielmehr wird dieser Antoniusberg zwischen Detmold und Oesterholz verortet. Irgendwann im 18. Jahrhundert, möglicherweise in der Zeit des Artikels im Lippischen Intelligenzblatt, scheint es nicht mehr für nötig betrachtet worden zu sein, die Publikation zu lesen, auf die man sich bezog. Bis hin zum aktuellen Wikipedia-Eintrag werden die Formulierungen zum Tönsberg nahezu im Copy-and-paste-Modus übernommen; der gelehrte Geistliche schrieb vom Oberlehrer ab und dieser wieder vom gelehrten Geistlichen. Nur der Historiker Roland Linde hat 2006 in seiner Arbeit über das Amt Barkhausen die Tönsberg-Etymologie kritisch und quellenkundig hinterfragt, nachdem wir intensiv darüber diskutiert hatten.
Ein Grund für den Erfolg der Antoniusgeschichte ist sicherlich, dass es eine schöne Geschichte ist. Mit einem Eremiten verbindet man Natur und Loslösung von den Zwängen des Alltags, eine ideale Sache für die Tourismuswerbung. Denn Fremdenverkehr wird im späten 19. Jahrhundert ein Wirtschaftsfaktor in Oerlinghausen. In diesem Zusammenhang finden sogar Kobolde und Nymphen Eingang in die Oerlinghauser Antoniusgeschichte. Auch der (erotische) Versuchungsaspekt des Antonius wurde als zweideutiger Trigger in der Werbung genutzt. Ein Beispiel: Im Bielefelder Wochenblatt vom 12. August 1865 steht – sinnigerweise im Anzeigenteil –  ein Werbegedicht mit dem Titel „Das Oerlinghauser Antonius Bad“. Gleich die zweite Strophe attestiert dem Bad therapeutische Wirkung:
„Die Kobolde alle, gar neckisch und gut,
Sie schaffen im Berg unverdrossen,
Thun heilende Kräfte zur kühlenden Fluth,
Bevor sie dem Kerker entflossen.“
Das Gedicht ist mit Einladungen gespickt, das schöne Oerlinghausen zu besuchen. Und in der letzten Strophe entführen die Kobolde zum Entsetzen des Heiligen Antonius die halbwilligen Nymphen in die Eingeweide des Tönsbergs. Die Verbuchung des Antonius in Übernachtungszahlen war im vollen Gang.
In sämtlichen Urkunden und Flurkarten seit seiner Ersterwähnung 1593 wird der Tönsberg explizit Tönsberg (oder Tönniesberg etc.) genannt. Nur wenn die gelehrige Lokalforschung oder die Tourismuswerbung mitmischt, taucht der Begriff Antonsberg auf. Es gibt überdies zahlreiche namensverwandte Berge, auf die nie eine Antoniuswallfahrt stattgefunden hat: Etwa der Tønsberg in Norwegen, der Dünsberg in Hessen oder der Donnersberg in der Pfalz. Gemeinsam haben diese Berge eine Eigenschaft: Deutlich sichtbare vorgeschichtliche Wallanlagen. Der Begriff Tönsberg dürfte demnach einen Berg mit einer menschengemachten, verfallenen Anlage bezeichnen. Der germanische Begriff  *tūn steht für Zaun, Begrenzung oder Dorf. Er steckt im englischen town und im deutschen Zaun (auch in Düne!). Althochdeutsch heißt zûn „Zaun“, altfriesisch tûn „Zaun, Bauerngut“, niederländisch tuin „Garten“, altsächsisch tûn „Zaun“, und im Altnordischen steht tûn für „Zaun“, „eingezäuntes Stück Land“ oder „Dorf“.

 

Besonders häufig kommt *tūn als Endung in englischen Ortsnamen vor. Man denke nur an die Fußballmannschaften, gegen die wir in den europäischen Wettbewerben noch eine Chance haben: Wolverhampton, Southampton, Everton. In England endet fast ein Achtel aller Ortsnamen mit der Silbe -ton. Die Kartierung auf Abbildung 3 veranschaulicht eindrücklich, wie beliebt das Wort im angelsächsischen Sprachraum ist. Bereits in der keltischen Sprache um die Zeitenwende bezeichnet das Wort dūnum eine Höhenburg. Dieser Begriff muss früh ins Germanische übernommen worden sein, noch bevor dort die so genannte zweite Lautverschiebung (hin zum Hochdeutschen) stattfand. Kurz: Der Tönsberg ist im germanischen Sprachraum ein Berg mit den verfallenen Resten alter Verteidigungsanlagen. Wäre Greta Thunberg in Ostwestfalen ansässig, dann würde sie höchstwahrscheinlich Greta Tönsberg heißen. Ihrem Nachnamen liegt jedenfalls dieselbe Ortsbezeichnung zugrunde.
Der Name Tönsberg dürfte deshalb nicht auf Antonius zurückgehen, denn er hat viel ältere Wurzeln. Um jedoch abschließend der Restromantik zu genügen: Es ist damit natürlich nicht ausgeschlossen, dass dort oben im Mittelalter eine Einsiedlerin oder ein Einsiedler gelebt hat. Diese gab es damals in großer Zahl.


 

Literaturauswahl

Roland Linde, Meier zu Barkhausen. Höfe und Familien in Westfalen und Lippe III (Lage 2006).

Nicolaus Schaten, Annales Paderbornenses I (Paderborn 1693).
Digitalisat: https://digital.ub.uni-paderborn.de/retro/urn/urn:nbn:de:hbz:466:1-7757

Jürgen Udolph, Namenkundliche Studien zum Germanenproblem (Berlin - New York 1994).

Sarah Coesfeld, Philipp Pohlmann und Jürgen Hartmann danke ich für Anregungen zu diesem Artikel.
 

Kommentare

Bin ganz erstaunt, was es für sprachliche Zusammenhänge gibt, die Sie hier aufzeigen! Und als Antonius-Anhänger (er hat mir oft beim Suchen geholfen) kriege ich auch noch was ab!

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