Die Geißelsäule in Santa Prassede in Rom: zur Karriere eines Möbelteils

Wer sich in Rom ein paar Schritte von Santa Maria Maggiore entfernt und die Basilika Santa Prassede aufsucht, findet dort oft nur wenige Besucher vor. Das ist eigentlich schade, denn in der Apsis gibt es ein bedeutendes frühmittelalterliches Mosaik zu bestaunen. In einer Seitenkapelle, der Zeno-Kapelle, die wenigstens bei meinem letzten Besuch fast die ganze Zeit über verwaist war, steht gut geschützt unter einem großen Glassturz ein etwas über 60 cm hohes Steinobjekt, das als Geißelsäule verehrt wird (Abb. 1). Vor der Kreuzigung, so die Evangelien (vgl. Johannes 19,1; Markus 15,15, Matthäus 27,26), ließ Pilatus Jesus geißeln.

Von einer Säule ist im Zusammenhang der Passionsgeschichte der Bibel aber noch nicht die Rede. Eine solche ist erstmals in einem Bericht eines Pilgers oder einer Pilgerin aus Bordeaux überliefert, die oder der im Jahr 333 das Heilige Land bereiste. In diesem so genannten Itinerarium Burdigalense (II, 8, Übersetzung nach Brodersen) ist auch der Standort in der Stadt Jerusalem beschrieben: „Auf dieser Seite geht man zum [Berg] Zion hinauf und sieht, wo das Haus des Priesers Kaiphas war, und da steht noch immer eine Säule, an der sie Christus geißelten.“ In dieser Zeit war eine Säule also im Besuchsprogramm der Pilger verankert und damit auch ein Teil der Volksfrömmigkeit.

Einige Jahrzehnte später, wohl im späten 4. Jahrhundert, besuchte eine Pilgerin, die wohl Aetheria oder Egeria hieß, Jerusalem. Sie beschreibt die Osterfeierlichkeiten, bei denen passend für den Karfreitag auch die Geißelsäule erwähnt ist (Itinerarium Aetheriae XXXVII,1, Übersetzung nach Brodersen): „Wenn dann die Entlassung [von der Messe] … geschehen ist, d. h. bevor die Sonne aufgeht, dann eilt ein jeder voll Eifer zur Zionskirche, um bei jener Säule zu beten, an welcher der Herr gegeißelt wurde.“ Die Säule war also offenbar zwischenzeitlich an einen anderen Ort verbracht worden. In einer Beschreibung des hl. Hieronymus (gestorben 420) heißt es (Hieronymus, Briefe 108, 9, Übersetzung nach Donner): „Dort (also in der Zionsbasilika) zeigte man ihr eine Säule, die die Vorhalle einer Kirche trägt; sie ist mit dem Blute des Herren bespritzt, der bei der Geißelung daran gefesselt gewesen sein soll.“ Aus der Beschreibung des Hieronymus geht hervor, dass die Farbe der Säule in irgendeiner Form mit Blut in Verbindung gebracht wurde. Wichtiger noch ist, dass das Stück hier in tragender Funktion in die Architektur einbezogen war, was ein entsprechend großes Format voraussetzt.

Aus einem vor 530 verfassten Werk des Archidiakons Theodosius gehen noch andere Details hervor (Theodosii de situ terrae sanctae 9, Übersetzung nach Donner). „Die Säule, die im Caiphashause war, an der der Herr Christus gegeißelt wurde, diese Säule ist jetzt auf Befehl des Herren nach der hl. Zion (also der Zionskirche) überführt worden, und genau so, wie er sie bei der Geißelung umfasst hielt, sind noch heute seine Arme, Hände und Finger sichtbar wie in Wachs eingedrückt, aber auch das ganze Gesicht, Kinn, Nase und seine Augen hat er wie in Wachs hinterlassen.“ Wenn das Zitat meint, dass die Überführung „auf Befehl des Herren“ geschah, ist dies übrigens nichts Ungewöhnliches. Schon heidnische Gottheiten haben ihren Gläubigen höchstpersönlich Befehle im Schlaf zu erteilt, etwa wenn sie sich die Stiftung eines Altars wünschten. Später taten dann auch manchmal Heilige einer würdigen Person im Traum kund, wo ihre Gebeine zu finden waren. Auf diese Weise fand der hl. Ambrosius von Mailand die Reliquien der Märtyrer Gervasius und Protasius. Doch das nur am Rande.

Im Jahr 614 wurde die Zionskirche im Zuge der Eroberung Jerusalems durch den Persischen Großkönig Chosrau II. zerstört. Die Geißelsäule zerbrach nach der Überlieferung in zwei Teile, die in die Kirche des hl. Petrus sowie in den so genannten Abendmahlssaal verbracht wurden. In Jerusalem wird heute in der Grabeskirche ein rötlicher Säulenstumpf als möglicher Überrest jenes Exemplars gezeigt (Abb. 2).

Die Steinsäule von Santa Prassede wurde 1223 von Kardinal Giovanni Colonna nach Rom gebracht, der am Kreuzzug von Damiette teilgenommen hatte. Der Name Colonna bedeutet nichts anderes als Säule, der Kirchenmann hatte also ein für ihn sehr passendes Mitbringsel im Gepäck. Wo das Stück herstammt ist unbekannt, vermutet wurden Konstantinopel, Jerusalem oder Damiette in Ägypten. Es besteht aus einem völlig anderen Material als das heute in der Grabeskirche befindliche Säulenfragment, wohl aus einem hellen, schwarz gebänderten Jaspis. Vielleicht haben die dunklen Streifen Assoziationen von verspritztem Blut geweckt, die natürlich den Anschein von Authentizität nur fördern konnten. Freilich fehlen Körperabdrücke, wie von Theodosius beschrieben, an dem Steinobjekt in Santa Prassede gänzlich.

Mit Blick auf das Format des Exemplars von Santa Prassede kommt dieses nicht als größeres, tragendes Architekturteil in einer Kirche in Frage. Das Stück ist zerbrochen und teilweise ergänzt. Der runde, wulstige Fuß ist beschädigt, der Schaft verjüngt sich konisch nach oben. Die ausladende Oberseite ist abgeflacht, die Deckplatte (Abakus) stark bestoßen; darunter befindet sich ein umlaufender Halsring (Abb. 3). Geht man heute auf die Rückseite, ist oben eine große rechteckige Aussparung erkennbar (Abb. 4). Diese führt auf eine andere Spur zur Bestimmung der Funktion. Trotz der Beschädigungen ist das Objekt anhand von intakten Parallelen gut zu rekonstruieren. Aus römischer Zeit sind einige Möbel aus Stein bekannt, die eine einzelne, massive säulenförmige Stütze haben, vor allem Tische und Becken. Die Aussparung an der Oberseite ermöglicht es, eine Tischplatte oder einen Beckenaufsatz mit einem Zapfen sicher zu verankern.

 

 

Derartige Möbelstücke sind weit verbreitet, es gibt sie aus unterschiedlichen Materialien und in verschiedenen Formen und Verzierungen. Ein Tisch mit einer Steinsäule als Stütze wurde beispielsweise in Schwarzenacker im Saarland gefunden und ist dort im Freilichtmuseum ausgestellt (Abb. 5). Auch hier ist ein schmaler Halsring im oberen Teil unterhalb der Tischplatte erkennbar. Weitere Exemplare stammen aus römischen Villen in Südwestdeutschland. Wenig aufwändige Tische mit einem einzelnen Fuß standen beispielsweise in den Vesuvstädten in einfachen Schankwirtschaften. Bei einem Becken aus Pompeji im Archäologischen Nationalmuseum Neapel besteht die kannelierte Stützsäule aus Marmor (Abb. 6). Solche teureren Stücke sind natürlich eher in einem wohlhabenden Ambiente zu verorten.

 

 

Die Geißelsäule in Santa Prassede ist also das Unterteil eines antiken Möbels aus Stein, das eine zweite Karriere als Reliquie, als Leidenswerkzeug Christi, gemacht hat. Solange in römischer Zeit solche Einrichtungsgegenstände noch in Haushalten vorhanden waren, hätten Menschen das Stück nicht mit einer Säule für eine Geißelung in Verbindung gebracht. Später, ohne diese hinderliche Kenntnis, stand der Anerkennung nichts mehr im Weg. Bei einigen künstlerischen Darstellungen ist versucht worden, einen erwachsenen Mann gefesselt an einem ähnlich kleinen Objekt stehend zu zeigen. So stützt sich der gemarterte Jesus bei einer heute im Liebighaus Frankfurt befindlichen, barocken Kleinplastik geradezu auf der Säule auf (Abb. 7). Einen Michelangelo, der immerhin selbst in Rom tätig war, und viele andere Künstler haben solche Proportionen nicht überzeugt. Bei der Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle ist die Geißelsäule jedenfalls kein Kleinformat (Abb. 8).

Wenn heute – also vor der aktuellen Covid-Pandemie – die Touristenströme in Rom weitgehend an Santa Prassede vorbeifließen, entgeht den Pilgerscharen also keine Reliquie, die nach archäologischen Gesichtspunkten Echtheit für sich beanspruchen kann. Für diejenigen, die die Kirche aus anderen Gründen besuchen, ist die dort meist herrschende Ruhe in jedem Fall ein Gewinn.

 

 

 

 

Bildnachweise und Bildrechte

1-3; 5-8 gemeinfreie Abbildungen aus Wikipedia,

Abb. 4 Foto Verfasser.

Bildautoren: Abb. 1 Autor Lalupa; Abb. 2 Autor Jacek555; Abb. 3 Autor Luciano Tronato; Abb. 5 Autor Marcus Cyron; Abb. 6 Autor Finoskov; Abb. 7 Autor Dguendel; Abb. 8 Autor Sailko

 

 

Im Text zitierte antike Quellen

Aetheria/Egeria, Reise der Aetheria. Zitiert nach Brodersen.

Hieronymus, Brief 108. Zitiert nach Donner.

Itinerarium Burdigalense/Pilger von Bordeaux. Zitiert nach Brodersen.

 

Literaturauswahl

K. Brodersen, Aetheria / Egeria, Reise ins Heilige Land (Berlin 2016).

H. Donner, Pilgerfahrt ins Heilige Land (Stuttgart 1979).

F. Haug, Römische Kellertische. Germania 3, 1919, 103-109.

E. Pernice, Hellenistische Tische, Zisternenmündungen, Beckenuntersätze, Altäre u. Truhen (Berlin 1932).

S. Volkmann, Geißelsäule. RDK Labor 2015 (Online-Publikation, abgerufen am 25.3.2021) https://www.rdklabor.de/wiki/Gei%C3%9Fels%C3%A4ule

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