Datierungsfragen zu Weihnachten
Alle Jahre wieder kommt am 25. Dezember erfahrungsgemäß Weihnachten. Solche Datierungen zur Antike – hier für das Geburtsdatum Jesu – erregen naturgemäß die berufliche Neugier von Altertumswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Daher ist zu dem Thema auch bereits viel geschrieben worden. Zum Anlass der Jahreszeit sollen hier zumindest einige wenige Gedanken vorgestellt werden.
In Anbetracht der Tatsache, dass ein guter Teil der Menschheit gewohnheitsmäßig diesen Tag begeht, sind die ältesten Überlieferungen keineswegs besonders genau oder zuverlässig. In der Antike wurden keine Dokumente ausgestellt, die wie unsere Geburtsurkunden oder Personalausweise funktionieren. Die biblische Angabe des Lukasevangeliums, nach der die Hirten Nachtwache bei ihren Herden gehalten hatten (Lukas 2,2,8), wird in Teilen der Forschung sogar dahingehend interpretiert, dass die Weihnachtsgeschichte zu der Zeit angesiedelt ist, in der die Schafe ihre Lämmer bekommen und deshalb besonderen Schutz brauchen, also im Frühjahr (Abb. 1).
Eine unabhängige historische Überlieferung außerhalb der Bibel gibt es jedenfalls nicht und tatsächlich scheint die Frage, an welchem Tag Jesus denn genau geboren wurde, auch im ältesten Christentum noch keine Rolle zu spielen. Ob frühe Christen wie der Evangelist Lukas überhaupt auf solche Daten zurückgreifen konnten, lässt sich nur indirekt erschließen, dazu unten mehr. Wenn, scheint der genaue Geburtstag Jesu jedoch zunächst aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden zu sein.
Der um 215 gestorbene frühchristliche Theologe Clemens von Alexandrien hat in seinem Werk „Stromateis“ (Teppiche 1,21,145, Übersetzung nach Stählin) dann aber gleich mehrere Daten im Angebot: „[…] Von der Leidenszeit (Christi) bis zur Zerstörung Jerusalems ergeben sich 42 Jahre 3 Monate, und von der Zerstörung Jerusalems bis zum Tode des Commodus 122 Jahre 10 Monate 13 Tage. Es ergeben sich also von der Geburt des Herrn bis zum Tode des Commodus im ganzen 194 Jahre 1 Monat 13 Tage.“ Kaiser Commodus wurde am 31. Dezember 192 ermordet; dreizehn Tage und einen Monat abgezogen liefert demnach nach dem Julianischen Kalender einen Geburtstag am 18. November. Festlegen möchte sich Clemens aber nicht, er fährt gleich im nächsten Satz fort: „Manche wollen mit übertriebener Genauigkeit bei der Geburt unseres Heilands nicht nur das Jahr, sondern auch den Tag angeben; sie setzen die Geburt in das 28. Jahr des Augustus, und zwar auf den 25. Pachon.“ Augustus kam 31 v. Chr. an die Regierung. Pachon, der neunte Monat des ägyptischen und koptischen Kalenders, dauert vom 9. Mai bis zum 7. Juni des gregorianischen Kalenders. Da der antike Autor das Datum im Juni schon durch die Formulierung „mit übertriebener Genauigkeit“ relativiert, ist es kaum verwunderlich, dass dieses sich ebenfalls nicht durchgesetzt hat. In Ägypten wurde das Epiphaniefest, bei dem die Geburt und die Taufe am gleichen Tag gefeiert wurden, wohl schon seit der Spätantike am 6. Januar begangen. Dieser Termin hat sich in der orthodoxen Kirche gehalten.
Wann kommt das heute weltweit verbreitete Weihnachtsdatum dann aber auf? Als älteste Nennung des geläufigen Tages am 25. Dezember gilt meist diejenige aus dem von Furius Dionysius Filocalus verfassten Kalender. Dieser ist auch als Chronograph von 354 bekannt. Die originale Handschriftensammlung aus der Spätantike ist nicht erhalten. Von einer ebenfalls verlorenen Abschrift aus dem Mittelalter wurden in der frühen Neuzeit mehrere Kopien angefertigt. Das Kalenderwerk selbst besteht aus mehreren unterschiedlichen Teilen. Der Tag, den wir heute Weihnachten nennen, ist in der Sammlung an zwei unterschiedlichen Stellen erwähnt. In einer Liste der römischen Konsuln vom Beginn der Zählung 509 v. Chr. bis ins Jahr der (erschlossenen) Fertigstellung im Jahr 354 sind wenige christliche Anmerkungen eingesetzt. Für das Jahr 1 ist eingetragen: Hoc cons(ule) dominus Iesus Christus natus est viii kal. Ian. […] Demnach ist also „der Herr Jesus Christus geboren acht Tage vor den Kalenden des Januar“; das entspricht dem 25. Dezember. Eine zweite Liste, die so genannte „Depositio martyrum“ (Begräbnistage der Märtyrer) überliefert christliche Märtyrergedenktage. Der erste Eintrag ist hier wiederum acht Tage vor den Kalenden des Januar: „natus Christus in Betleem Iudeae“ (Christus geboren in Bethlehem im Judäa). Die Redaktion der „Begräbnistage der Märtyrer“ erfolgte wohl schon früher, im Jahr 336 (vgl. etwa Divjak/Wischmeyer, Kalender S. 499). In der jüngsten wissenschaftlichen Vorlage des Chronographen von 354 wird aber darauf hingewiesen, dass das Weihnachtsdatum dort möglicherweise erst später in einer Abschrift eingefügt worden ist. Durch die Platzierung vor den Januar steht die Geburt Jesu nämlich in der Liste der Märtyrergedenktage im Jahreslauf passenderweise an der ersten Stelle. Die gleiche Angabe wäre dann in der Liste der Konsulardaten übernommen worden (Divjak/Wischmeyer, Kalender S. 501 f.).
Interessant ist ein vergleichender Blick in einen anderen Teil des Chronographen von 354, der keine christlichen Feiertage angibt. Im Kalender mit Monatsbildern (Abb. 2) und zugehörigen Tageslisten (kalenden) mit Feiertagen, die in Rom begangen wurden, findet sich am 25. Dezember ein Eintrag N(atalis) invicti, der sich auf den Kult des Sonnengottes Sol Invictus bezieht (Also: „Geburtstag des Sol Invictus“). Die Abkürzung N(atalis) wird hier übers Jahr häufiger verwendet; für Götter oder Personen aus der Mythologie wie etwa der N(atalis) Herculis am 1. Februar, der N(atalis) Dianes am 13. August, aber auch der Geburtstag der Stadt Rom, der N(atalis) Urbis am 21. April. Genannt sind auch andere Festtage wie Spiele sowie Kaisergeburtstage, etwa der 24. Januar mit dem N(atalis) d(ivi) Hadriani, dem „Geburtstag des vergöttlichten Kaisers Hadrian“. Kaiser Konstantin I. ist sogar zweimal bedacht; der Eintrag N(atalis) d(ivi) Constantini am 27. Februar bezieht sich auf seinen leiblichen Geburtstag, der identische Vermerk am 25. Juli auf das Datum seiner Thronerhebung in York.
Die Tatsache, dass Weihnachten in diesem Teil des Kalenders unerwähnt bleibt, ist nicht leicht zu bewerten. Immerhin befinden wir uns im Jahr 354 schon in der Zeit der christlichen Kaiser der konstantinischen Dynastie. Hätte das Fest damals bereits einen offiziellen Charakter in Rom gehabt, wäre es wohl wie die anderen Feiertage erwähnt gewesen. Sieht man den Kalender in seiner ursprünglichen Form als Geschenk für das Mitglied einer Familie mit konsularischem Rang, hat dessen Gestaltung auch eine gesellschaftliche Dimension (Rüpke, Geschichte S. 222-225). Es wäre dann anzunehmen, dass dieser Teil des Kalenders mit Absicht ohne christliche Bezüge geblieben ist. Das wäre natürlich eine Positionierung des Verfassers oder des Schenkers gewesen. Da aber durchaus christliche Listen in den Chronographen aufgenommen sind, will eine solch gewollte Ausgliederung nicht völlig überzeugen.
Auflösen lässt sich die Problematik vielleicht dann, wenn man die Abhaltung großer populärer Feiern und die Festlegung des zugehörigen Tages erst einmal unabhängig voneinander betrachtet. Wenn man das öffentliche, groß angelegte Feiern von Weihnachten als einen dynamischen Prozess begreift, war dieser zur Zeit der Entstehung des Chronographen im Jahr 354 möglicherweise noch nicht abgeschlossen. In diesem Fall muss der 25. Dezember bei der Erstellung des Kalenderteils noch nicht zwangsläufig einen solch hohen Stellenwert gehabt haben, dass eine Aufnahme in die Liste der städtischen Feiertage dringend geboten war. Der römische Bischof Liberius hatte das Fest zwar bereits kurz vorher, im Jahr 353, am Grab des Apostels Petrus, also in Alt St. Peter in Rom gefeiert und dabei in seiner bei Ambrosius von Mailand überlieferten Predigt (Ambrosius, Über die Jungfrauen 3,1) erwähnt, dass sich das Volk zu diesem Anlass „zahlreich“ eingefunden habe. Wenn aber solche Weihnachtsfeiern als öffentliches Großereignis in der Stadt Rom erst in den 350er Jahren allmählich an Zulauf gewonnen haben, wäre es vorstellbar, dass das zugehörige Datum in den Kalenden des Chronographen von 354 gerade noch nicht vorkommt.
Ein Argument, das diese Annahme stützen kann, stammt aus einer anderen spätantiken Großstadt. Der spätere Erzbischof von Konstantinopel, der Hauptstadt des oströmischen Reiches, Johannes Chrysostomus (gestorben 407) hat zu Weihnachten des Jahres 386 eine Predigt gehalten, aus der hier ein Ausschnitt zitiert sei (Chrysostomus, Auf Weihnachten 1,1; Übersetzungen nach Schmitz): „Schon längst hat es mich verlangt, diesen Tag (also Weihnachten, Anm. Verf.) zu schauen, und zwar zu schauen inmitten einer so zahlreich versammelten Gemeinde; und immer wünschte ich, dieser Schauplatz unserer Andacht möchte so gut besetzt sein, wie er sich jetzt unsern Blicken darstellt. Das ist also nun wirklich geschehen. Noch sind es nicht zehn Jahre, seitdem dieser Tag zu unserer Kenntnis gelangt ist; und trotzdem ist dieses Fest durch euren frommen Eifer zu einer solchen Blüte gediehen, als wäre es ein altes Erbstück aus längst vergangenen Zeiten.“
Aus diesem Ausschnitt geht hervor, dass in Konstantinopel – immerhin nicht irgendein Ort im spätrömischen Reich – das Weihnachtdatum erst nach 376 so bekannt war, dass der Kleriker es wusste. Das Fest wird hier in kurzer Zeit populär, trifft also offenbar wie in Rom den Geist der Zeit. Dieser überregional ablaufende Entwicklungsprozess ist eingebettet in eine Kommunikationsstruktur. Viele hochrangige Kirchenleute in der Spätantike waren gut untereinander vernetzt, sie trafen sich auf Synoden und schrieben einander Briefe. Wenn die oben aufgeführten Erörterungen zum Chronographen von 354 darauf hindeuten, dass Weihnachten in Rom erst ab den 350er Jahren verstärkt gefeiert wurde und wenn Chrysostomus in Konstantinopel (vielleicht indirekt über Antiochia, aber mit Bezug auf römische Quellen) das Weihnachtsdatum nach eigener Angabe tatsächlich erst nach dem Jahr 376 erfahren hat, ergibt sich ein noch ein halbwegs schlüssiges Bild. Wäre Weihnachten in Rom dagegen schon früher in großem Rahmen begangen worden, hätte sich das zugehörige Datum innerhalb der christlichen Netzwerke wohl doch schon länger herumgesprochen gehabt.
Chrysostomus fährt in seiner Weihnachtspredigt unmittelbar fort mit einem Passus, der einen weiteren Gedanken einführt: „Deshalb könnte man diesen Festtag mit Recht einen neuen und auch wieder einen alten nennen; einen neuen, weil er erst jüngst zu unserer Kenntnis gekommen, einen alten und längst gewohnten, weil er dem älteren so schnell ebenbürtig geworden und auf dieselbe Stufe emporgestiegen ist.“
Dieser Gedanke der doppelten Natur des Feiertages wird im Text ausführlicher erläutert. In der Predigt wurden zu Beginn schon zwei Aspekte kurz angesprochen, die sich als Hinweise in diesem Sinn interpretieren lassen. Zunächst weist Chrysostomus auf die Bibelstelle bei Lukas hin, bei der die schwangere Maria die ebenfalls schwangere Elisabeth (also die Mutter von Johannes dem Täufer) besucht. Später wird er noch darauf eingehen, dass durch eine Rechenkombination aus dieser biblischen Erzählung der 25. Dezember als Geburtstag Jesu ermittelt werden kann. Der zweite Gesichtspunkt, der des älteren Feiertages, ist nur indirekt zu erschließen (Chrysostomus, Auf Weihnachten 1,1): „Wir aber schauen heute nicht etwa Maria, sondern unsern neugeborenen Erlöser selbst; daher sollten wir noch weit mehr frohlocken und jauchzen, zugleich aber voll Bewunderung anstaunen dieses große Geheimnis, das unser Begreifen weit überragt. Denn wie würde es uns vorkommen, sähen wir die Sonne vom Himmel herabsteigen, auf der Erde umher wandeln und von hier aus allen Menschen ihre Strahlen zusenden? Würde nicht dieses Ereignis alle Zuschauer mit Staunen erfüllen? Und doch ist die Sonne nichts weiter als eine Spenderin sichtbaren Lichtes; nun siehe zu und erwäge, was es heißen will, dass die Sonne der Gerechtigkeit (also Jesus, Anm. Verf.) aus unserer fleischlichen Natur heraus ihre Strahlen entsendet und unsere Seelen erleuchtet!“
Mit Hinblick auf das bekannte Datum, das oben im Chronographen von 354 genannt worden ist, nämlich auf den Geburtstag des Sonnengottes, drängt sich die Assoziation auf, dass Chrysostomus seinen Zuhörern eine Brücke zum frommen Verständnis bauen wollte nach dem Motto: wenn der Sonnengott an seinem schon länger bekannten (heutigen) „Geburtstag“ zu den Menschen käme, würden sie staunen, den ‚neugeborenen Erlöser‘ mit seinem kürzlich bekannt gewordenen Geburtstag hat es aber tatsächlich gegeben.
In der Forschung stehen die beiden bei Chrysostomus aufscheinenden Ansätze zur Festlegung des Weihnachtsdatums in Konkurrenz zueinander (vgl. etwa Förster, Anfänge S. 4; Nothaft, Chronology). Eine so genannte Berechnungshypothese geht davon aus, dass christliche Denker Hinweise aus biblischen und anderen religiösen Texten miteinander verbanden. Aus diesen Angaben rechneten sie anschließend neue Datierung aus. Der soweit bekannt älteste Ansatz dazu geht auf einen Sextus Iuilius Africanus zurück, der im 3. Jahrhundert für die Empfängnis Mariens den 25. März berechnete. Ob er in der Folge tatsächlich einen Geburtstermin nach genau neun Monaten ansetzte, lässt sich aus dem nur fragmentarisch überlieferten Werk aber nicht ermitteln. Die andere, die so genannte religionsgeschichtliche Hypothese, geht davon aus, dass das Weihnachtsdatum von bekannten „heidnischen“ Festen wie dem Geburtstag des Sonnengottes (oder dem gelegentlich genannten Sol-Mithras) abgeleitet worden ist.
Bei der Gegenüberstellung solcher unterschiedlicher Denkansätze lohnt es sich, zusätzlich auch die gesellschaftliche Rolle der einzelnen Akteure und gegebenenfalls auch deren Interessen und Perspektiven mit einzubeziehen. Handelnde Personen sind zum einen die Kleriker, die als christliche Schriftsteller in Erscheinung treten. Chrysostomus, der hier als wichtiges Beispiel vorgestellt wurde, hat sein eigenes christliches Berechnungsmodell. Auch wenn er mit dem Hinweis auf die Sonne vielleicht indirekt und gewissermaßen aus didaktischen Gründen mit der Assoziation zum Geburtstag des Sol am 25. Dezember spielt, lehnt er diesen Ansatz als Theologe ab. Von ihrer Position her wollen christliche Denker den Bezug auf alte „heidnische“ Bräuche nicht herstellen. Dagegen hat wenigstens ein Teil der Gläubigen diese Verbindung nicht wahrgenommen oder bewahrte solche älteren Traditionen aus einem religiösen Habitus heraus. Das ist auch aufschlussreich für die weitere Betrachtung zur Entstehung des Weihnachtsdatums. Recht instruktiv ist in diesem Zusammenhang eine von Papst Leo I. (gestorben 461) gehaltene Weihnachtspredigt (Sermo XXVII,7,4, Übersetzung des Auszugs nach Steeger): „Auf derartige Bräuche geht auch jene gottlose Gewohnheit gewisser nur allzu alberner Leute zurück, von Anhöhen aus bei Anbruch des Tageslichtes die emporsteigende Sonne anzubeten. Ja sogar manche Christen sehen darin eine solch gottgefällige Handlungsweise, dass sie sich vor ihrem Eintritte in die Basilika des heiligen Apostels Petrus, die doch einzig und allein […] Gott geweiht ist […] nach der aufgehenden Sonne umwenden, ihr Haupt beugen und sich zu Ehren des strahlenden Gestirns verneigen. Dass dies vorkommt zum Teil aus strafwürdiger Unwissenheit, zum Teil aus heidnischer Gesinnung grämt und schmerzt uns tief. Denn mögen damit auch einige vielleicht mehr dem Schöpfer dieses schönen Lichtes ihre Ehrfurcht bezeigen als dem Lichte selbst, das doch nur sein Werk ist, so muss man doch auch den Schein einer solchen Verehrung meiden. Wird sonst nicht derjenige, der den alten Götterkult verlassen hat und diesen scheinbaren Brauch bei den Unsrigen wiederfindet, an jenem Überreste seines alten Aberglaubens wie an etwas Lobenswertem festhalten, wenn er sieht, dass Christen und Ungläubige darin übereinstimmen?“
Gerade die Tatsache, dass der Passus in einer Weihnachtspredigt steht und damit am Geburtstag des Sonnengottes vorgetragen wird, lässt den Zwiespalt erkennen: Wenigstens einige Gläubige halten an alten Elementen der Verehrung der Sonne und des Sonnenkultes fest. Der Papst befürchtet, dass diese Übertragung dann, wenn sie als Gemeinsamkeit von alter Religion und Christentum wahrgenommen wird, sogar besonders geschätzt werden würde. Leo möchte demzufolge also auch sicher nicht, dass die Menschen eine Ableitung des Weihnachtsdatums vom Fest des Sol vermuten. Umgekehrt formuliert befürchtet er wohl, dass genau diese Herleitung in den Köpfen einiger eben doch passiert – modern gesprochen also in Teilen der Gesellschaft auf einem Weg gedacht wird, den die heutige religionsgeschichtliche Hypothese beschreibt.
Ein Gegensatz zwischen den beiden Hypothesen besteht also vor allem dann, wenn man die Position der beteiligten Gruppen außer Acht lässt. Christliche Theologen konnten ein Weihnachtsdatum aus christlichen Überlieferungen heraus errechnen und einsetzen. Sie brauchten sich deshalb, wenn sie es aus religiösen Gründen nicht wollten, auch nicht an alten „heidnischen“ Feiertagen orientieren. Gläubige, die in der Spätantike erst zum Christentum fanden und ihre Vorstellungen erst noch anpassen mussten, mögen die zeitliche Verbindung zwischen dem Geburtstag des Sol und dem Weihnachtstag durchaus gesehen haben. Darauf können sowohl der „indirekte“ Hinweis bei Bischof Chrysostomus wie auch die Kritik von Papst Leo hinweisen.
Ich möchte mit einem anderen Gedanken noch einmal zu Chrysostomus zurückkommen. Im nächsten Abschnitt seiner Predigt in Konstantinopel geht der Bischof darauf ein, wie sich das Weihnachtsdatum auch mit gleichsam historischen Methoden ermitteln ließe (Chrysostomus, Auf Weihnachten 1,2): „Sollte aber Jemand nach Art rechthaberischer Menschen sich bei dem Gesagten nicht beruhigen wollen, so habe ich noch einen zweiten Grund anzuführen; und was für einen? Ich nehme ihn von der Volkszählung her, die im Evangelium berichtet wird. […] Daraus geht hervor, dass der Herr zur Zeit der ersten Volkszählung (des Quirinus unter Kaiser Augustus, s. u.) geboren ward. Wer nun die alten, in Rom aufbewahrten öffentlichen Urkunden lesen will, der kann daraus die Zeit dieser Volkszählung genau erfahren. Aber was geht das uns an, sagt ihr, da wir doch nicht in Rom sind und auch nicht dahin kommen? Höre nur und sei nicht ungläubig: Wir haben dieses Fest von Leuten überkommen, die es genau wissen und selbst in jener Stadt wohnen. Denn die Römer sind es, die dieses Fest seit langer Zeit und nach einer alten Überlieferung feiern, und die jetzt auch uns die Kunde davon gebracht haben.“
Der Hinweis auf die Feiern „seit langer Zeit und nach alter Überlieferung“ muss in diesem Zusammenhang nicht irritieren. Er ist wohl vielmehr als ein rhetorisches Stilmittel zu sehen: eine besonders alte Überlieferung galt in der Antike als besonders glaubwürdig.
Interessant ist der Ansatz des Chrysostomus, die Weihnachtsgeschichte mit historischen Überlieferungen zur Volkszählung des Augustus zu unterfüttern. Lukas selbst gibt in der Einleitung des Evangeliums nämlich an, gleichsam wie ein Historiker recherchiert zu haben. Der Textpassus zur Geburt Jesu (Lukas 2,1-7) lautet: „In jenen Tagen erlies Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Die geschah zum ersten Mal; damals war Quirinus Statthalter von Syrien (die Statthalterschaft des P. Sulpicius Quirinus in Syrien und der Zensus in Judäa im Jahr 6 n. Chr. wird von Flavius Josephus, Jüdische Altertümer 18,1 beschrieben. Anm. Verf.). Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazareth in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt […] Bethlehem […]. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Als sie dort war, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft und sie gebar einen Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“
Es hat sich in der Theologie und der Alten Geschichte die grundsätzliche Frage gestellt, ob Lukas mit der Weihnachtsgeschichte überhaupt irgendeine historische Aussage überliefert hat oder ob diese ausschließlich als „theologischer“ Text zu lesen ist. Die Geburtsgeschichte wird in Teilen der Forschung u. a. deshalb als eine theologisch notwendige Dichtung angesehen, da nach dem Propheten Micha (5.1) derjenige, der einst ‚über Israel herrschen soll‘, aus christlicher Sicht also Jesus, aus Bethlehem kommen werde. Die Notwendigkeit, dass diese Prophezeiung eintreffen musste, bietet dann eine Erklärung dafür, warum die hochschwangere Maria überhaupt den langen Weg in einen anderen Ort auf sich genommen haben sollte, um dort ihre Steuern zu erklären. Eine historische Notwendigkeit dafür gäbe es nach dieser Argumentation nicht.
Für einen möglichen historischen Hintergrund aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein archäologischer Fund. Die Papyrusurkunde (Abb. 3), die 1961 zusammen mit einem Konvolut von Familienpapieren in einer Höhle in der Nähe des Toten Meeres entdeckt wurde, hat nämlich einige Parallelen zur Schilderung in der Weihnachtgeschichte. Eine Jüdin mit Namen Babetha erschien demnach am 2. Dezember des Jahres 127 n. Chr. persönlich in der Stadt Rabbath, um ihren verstreuten Grundbesitz von vier Grundstücken mit Dattelpalmen in ihrem etwa 40 km entfernten Wohnsitz Maoza zu versteuern. Begleitet wurde sie von ihrem Ehemann, der als ihr tutor (Vormund) das Schriftstück nach römischem Recht gültig unterzeichnete. Genannt sind unter anderem der damals regierende Kaiser Hadrian, die aktuellen Konsuln, der für die Abhaltung des Zensus verantwortliche Statthalter T. Aninius Sextius Florentinus sowie – zwei Tage später – die Unterschrift des Präfekten Priscus, der die auch von fünf Zeugen unterschriebene Urkunde entgegengenommen hat. Mit Hin- und Rückreise, Ausstellung der Schriftstücke und der Wartezeit waren Babetha und ihr Mann demnach einige Tage, vielleicht sogar über eine Woche lang unterwegs.
Der Althistoriker Klaus Rosen hat hier den Vergleich gezogen (Rosen, Geburtsdatum S. 41-58). Mit Hinweis auf gleichartige griechische Formulierungen legte er dar, dass Lukas einen vergleichbaren Aufbau und Formulierungen benutzte wie die Steuerurkunde des frühen 2. Jahrhunderts. Er schloss daraus, dass der Evangelist beim Schreiben der Weihnachtsgeschichte eine solche offizielle Urkunde vor Augen hatte. Damit gewinnt der Gedanke eine gewisse Plausibilität, dass in der Weihnachtsgeschichte auch ein historischer Teil stecken kann. Hätte Maria Landbesitz bei Bethlehem gehabt, wäre sie gezwungen gewesen, tatsächlich selbst an den Ort der Steuererhebung zu reisen und vor den zuständigen Beamten zu erscheinen, wobei Josef für sie unterschreiben musste. Auf die Schwangerschaft hätte eine solche Verwaltungsanweisung keine Rücksicht genommen. Da sich gleichzeitig alle einfanden, die in Bethlehem aus dem gleichen Grund ihre Steuern erklärten ohne selbst dort zu wohnen, waren keine regulären Unterkünfte mehr zu bekommen. Maria und Josef hätten dann mit einem Notquartier vorlieb nehmen müssen, vielleicht sogar in einem Wirtschaftsgebäude auf eigenem Grund, in dem Jesus geboren wurde.
Rosen wies zudem darauf hin, dass die Steuererhebung der Babetha wohl nicht zufällig im Dezember erfolgte. Vielmehr war in dieser Zeit die Ernte eingebracht, die Bauern hatten Zeit, sich für einige Tage um ihre Verwaltungsangelegenheiten zu kümmern. Dies wäre auch bereits für die Terminierung der Steuererhebung in der Weihnachtsgeschichte anzunehmen, die Geburt Jesu im Dezember damit plausibel (Rosen, Geburtsdatum S. 56).
Das Geburtsjahr selbst ist immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Klaus Rosen gehört zu den Forschern, die die Geburt an des Ende der Regierungszeit von Herodes dem Großen (gestorben 4. v. Chr., vgl. auch Zilling, Überlegungen) setzen. Vor einigen Jahren lieferte der Althistoriker Alexander Rubel Argumente für eine Datierung nach Lukas in die Zeit des Zensus unter Quirinus im Jahr 6. n. Chr. (Rubel, Überlegungen S. 1-22). Rubel geht u. a. davon aus, dass die Angabe bei Lukas, nach dem die Schwangerschaft Mariens in die Zeit des Herodes fiel (Lukas 1,5) nicht auf Herodes den Großen, sondern auf dessen Sohn Herodes Archelaos (wurde von Kaiser Augustus im Jahr 6. n. Chr. abgesetzt) bezogen werden kann. Auf die Frage nach dem Geburtsjahr wird hier aber nicht weiter eingegangen.
Von den Überlegungen zur datierten Steuererklärung der Babetha im Zusammenhang mit dem Lukasevangelium führt noch einmal ein großer Schritt zurück zu Chrysostomus (vgl. oben): „Wer nun die alten, in Rom aufbewahrten öffentlichen Urkunden lesen will, der kann daraus die Zeit dieser Volkszählung genau erfahren.“ Die spätantiken Steuerzahler*innen im Publikum dürften gewusst haben, dass es datierte Dokumente für ihre eigenen Zahlungen gab. Auf dieses Wissen konnte die Predigt aufbauen. Für eine Steuerzahlerin wie Maria wäre es im Verständnis der Zuhörerschaft plausibel gewesen, anlässlich des Zensus zum Ort eigenen Grundbesitzes anreisen zu müssen, wobei Josef als männlicher Tutor die rechtsgültige Unterschrift leistete. Dies hätten auch die Zeitgenossen des Lukas als früheste Leserschaft des Evangeliums schon genauso verstanden.
Das bedeutet aber ausdrücklich nicht, dass in Rom im 4. Jahrhundert wirklich echte Urkunden zur Ermittlung zum genaueren Zeitpunkt des Tages der Geburt Jesu (noch) vorhanden waren. Sehr wahrscheinlich war das nämlich nicht der Fall. Es gibt durchaus andere Möglichkeiten. Einerseits ist es vorstellbar, dass Chrysostomus wissentlich oder unwissentlich die Unwahrheit sagte und dass solche Texte in Wirklichkeit nicht existierten – er rechnete schließlich selbst nicht damit, dass jemand aus Konstantinopel seine Aussagen in Rom nachprüfen würde. Möglich wäre auch, dass dort zwar noch Erinnerungen an solche Urkunden tradiert worden waren, die Schriftstücke selbst aber verloren und deren Inhalt – wenn überhaupt – nur unzuverlässig überliefert war. Seit der Spätantike wurden außerdem Texte fiktiven Inhalts aus frommem Eifer verfasst, die beispielsweise das Bedürfnis nach dem Wissen über unbekannte Märtyrer zufrieden stellen konnten. Hätte Chrysostomus selbst auf eine Kopie einer solchen echten oder gefälschten Urkunde zum Weihnachtsdatum zurückgreifen können, hätte er diese sicher zusätzlich zu seinem Berechnungsmodell ausführlicher zitiert.
Dass die großen kirchlichen Feiern zu Weihnachten am 25. Dezember stattfinden, ist offenbar eine Neuerung des 4. Jahrhunderts. Es lassen sich zwar Argumente dafür finden, dass die biblische Weihnachtsgeschichte des Lukas historische Anteile enthält, die Daten bieten aber sowohl für das Jahr wie auch die nähere Datierung einen Spielraum. Das Weihnachtsdatum ist möglicherweise schon früher, im 3. Jahrhundert, errechnet worden, in der Genauigkeit aber nicht historisch. Die Berechnungen waren nötig, da der wirkliche Tag der Geburt Jesu nicht bekannt war. Das ist vielleicht ein kleiner Trost für Alle, deren Geburtstag auch schon einmal vergessen worden ist, oder die selbst einen Geburtstag vergessen haben. Darauf, ob und wie Sie Weihnachten begehen möchten, sollen diese Überlegungen keinen Einfluss haben.
Zitierte antike Quellen in Übersetzung
Chrysostomus, Auf Weihnachten. In: Ausgewählte Schriften des heiligen Chrysostomus, Patriarch von Konstantinopel. Übersetzt von M. Schmitz. Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 13 (Kempten 1879).
Clemens von Alexandrien, Teppiche. Übers. von O. Stählin. Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 18,3 (München 1937).
Leo der Grosse, Sämtliche Sermonen. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit Einleitung und Inhaltsangaben versehen von Th. Steeger. Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 54-55 (München 1927).
Ausgewählte Literatur
J. Divjak/W. Wischmeyer (Hrsg.), Das Kalenderhandbuch von 354. Der Chronograph des Filocalus (Wien 2014).
H. Förster, Die Anfänge von Weihnachten und Epiphanias. Studien u. Texte zu Antike und Christentum 46 (Tübingen 2007).
P. Nothaft, Early Christian Chronology and the Origins of the Christmas Date: In Defense of the "Calculation Theory", Questions Liturgiques 94/3-4, 2013, S. 247-265.
K. Rosen, Zur Diskussion um Jesu Geburtsdatum. Der Census des Quirinus und eine jüdische Steuererklärung aus dem Jahr 127 n. Chr., in: Walter Brandmüller (Hrsg.), Qumran und die Evangelien. Geschichte oder Geschichten? (Aachen 1994) S. 41-58. – In einer Antwort auf Rosen geht M. Diefenbach, Historische Geburtsgeschichte oder Geschichten um Jesu Geburt. Ein formkritischer Zugang für Lk 2,1-5. Münchener Theologische Zeitschrift 51, 2000, S. 1-6 jedoch davon aus, dass Lukas keine historische Schilderung geben wollte.
A. Rubel, „Es begab sich aber zu der Zeit…“. Neue Überlegungen zur Geburt Christi und zur Glaubwürdigkeit der Weihnachtsgeschichte nach Lukas. Gymnasium 118, 2011, S. 1-22.
J. Rüpke, Geteilte und umstrittene Geschichte: der Chronograph von 354 und die Katakombe an der Via Latina. In: H. Leppin (Hrsg.), Antike Mythologie in christlichen Kontexten der Spätantike. (Berlin 2015) S. 221-238.
H.-M. Zilling, Überlegungen zum Zensus des Quirinius. H-Soz-Kult, 22.12.2006, <www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-853>.
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