Achilles in Helpup

Ein Leutnantsgrab aus dem Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg führte nicht nur zu industrialisierten Schlachten, sondern auch zu industrialisierten Grabmälern. Die serielle Fertigung machte nicht einmal vor den Epitaphien halt, den Maseratis der Grabskulptur. Denn auch die Nachfrage nach Grabmalen reicher junger Männer stieg ab August 1914 schlagartig und überforderte die Produktionskapazität. Vielleicht kann dieses neue Verständnis des Totengedenkens sogar am besten an solchen Spitzenprodukten abgelesen werden.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür findet sich in Helpup, auf der Hofgrablege des Gutes Niederbarkhausen. Dieser Separatfriedhof ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die Herren des größten Gutes der Region bestatteten hier sehr exklusiv - ebenso exklusiv wie ihre Vorgänger in der Oerlinghauser Alexanderkirche. Dort wurden bis ans Ende des 18. Jahrhunderts die führenden Angehörigen des Gutes an hervorgehobener Stelle beerdigt. Ihr Patronageverhältnis zur Alexanderkirche entsprach den Patronagen des Niederadels für seine Grabkirchen. Mit dieser jahrhundertealten mittelalterlichen Tradition brachen die letzten Barkhausen und deren Nachfolger, die Großunternehmerfamilie Tenge. 1864 entstand stattdessen in freier Natur ein Mausoleum. Zentrum der neuen Grablege war ein rekonstruierter dorischer Tempel, dessen Maße exakt Vitruvs Harmonielehre entsprechen. Nach Süden hatte man von dort aus einen Panoramablick auf den Tönsberg, nach Norden eine atemberaubend weite Aussicht. Man merkt dem Bau den Freigeist seines Bauherren Friedrich Ludwig Tenge an, der auf Barkhausen unter anderen Friedrich Engels, Ferdinand Freiligrath oder Hoffmann von Fallersleben beherbergte. Seine Nachfolger hatten weniger Sinn für Liberalität und Demokratie, sie waren wie viele Großgrundbesitzer der spätwilhelminischen Zeit Parteigänger der extremen Rechten. Der neue Geist scheint auch bei ihren Umbauten am dorischen Tempel durch:  Das zuvor offene, mit der weiten Landschaft korrespondierende Gebäude wirkt durch die Umbauungen hermetischer und nach Innen gekehrt.

An prominenter Stelle (Abb. 1) wird in diesem kleinen Begräbnisplatz an zwei im Ersten Weltkrieg gefallene Leutnants aus der Familie Tenge erinnert.

Und zwar mit einem kniend sterbenden griechischen Krieger. Dass es sich um den Helden Achill aus dem trojanischen Krieg handelt, wissen wir durch die zeitgenössische Grabkunst-Literatur. Aber auch ohne solche Texte wäre die Ansprache als Achill dem gebildeten Großbürgertum verständlich gewesen. Denn der auf dem Schild verewigte Schmiedegott Hephaistos (Abb. 2) hat das Schild gemacht.

Die hohlwangige Harpyie über dem Hephaistoskopf kann mit moderner Gothik-Kunst mithalten. Harpyien fressen der Sage nach Menschenfleisch, was sie zu idealen Todessymbolen macht. Nebenbei spielt der Schmiedegott auf die wirtschaftliche Basis der Familie an, denn Friedrich Ludwig Tenge hatte mit der Holter Hütte 1839 die erste industrielle Eisenverarbeitung in Ostwestfalen hochgezogen. Besonders quellentreu ist die Darstellung des Schildes des Achilles allerdings nicht. Homer beschreibt dieses Schild in der Ilias über sage und schreibe 150 Verse hinweg, es ist die bekannteste Kunstbeschreibung der Antike. Hephaistos benötigt zur Herstellung des Schildes 20 Blasebälge und (wie bei der Gusseisenherstellung in der Holter Hütte) verschiedene Eisenerze. Aber auf dem Schild ist nicht der Kopf des Herstellers verewigt, sondern eine komplexe kosmologische Darstellung mit dem Ur-Ozean am Rand, den Gestirnen und zahlreichen Szenen aus dem menschlichen Leben. Ebenso quellenfern dargestellt ist das Schwert Achills, das keine echten Vergleiche in der ägäischen Spätbronzezeit hat. Am ehesten ähnelt es noch einem griechischen Xiphos, dem Vorläufer des römischen Gladius.

Die Plastik erzählt Achills Tod doppeldeutig. Achill stirbt hier in kämpferischer Stellung verharrend. Sein Schwert hat er noch fest im Griff. Die tödliche Verwundung an der Achillessehne ist nicht wahrnehmbar. Die Muskeln sind angespannt, wie vor einem großen Sprung. Alles wirkt so, als ob das Leben nach dem Heldentod irgendwie weitergeht. „Pro Patria“ ist auf der Innenseite seines Schildes überdeutlich eingeschrieben (Abb. 3).

Das Kunstwerk wurde in Steingusstechnik seriell hergestellt. Es stammt aus den Werkstätten von Roland Engelhard (1868-1951), der 1908 in Hannover die Künstlervereinigung „Friedhofskunst“ gegründet hatte. Hier verbanden sich Architekten und Bildhauer zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Cluster. Denn die neuen großbürgerlichen Friedhöfe der spätwilhelminischen Zeit waren ein enormer Absatzmarkt. Die alten Friedhöfe unserer Städte werden ja heute noch durch die Grabmonumente aus dieser Zeit beherrscht.

Formales Vorbild unserer Plastik ist ein mehr als zwei Generationen älteres Grabmal eines sterbenden Achill von Friedrich Tieck auf dem Berliner Dreifaltigkeitsfriedhof. Das Denkmal erinnert sinnigerweise an einen Veteranen des griechischen Separationskrieges vom osmanischen Reich. Die Inschrift führt als Todesjahr 1847. Allerdings ist die Figur selbst noch älter, sie wurde 1825 in der berühmten Berliner Zinkgießerei Moritz Geiß gefertigt. Trotz vieler unterschiedlicher Details (Achill trägt beispielsweise eine Lanze statt des Schwertes) entspricht diese Berliner Vorlage des Engelhardschen Steinguss-Achilles.

Solche Plastiken waren zwar wie gesagt seriell herstellbar und keine Einzelstücke. Man darf deshalb aber nicht davon ausgehen, dass sie massenhaft produziert wurden wie heute die Betongartenzwerge. Sie waren vielmehr auf eine ganz bestimmte Käuferschicht ausgelegt, sozusagen semi-exklusiv. Zu unserem Helpuper Achill identische Stücke konnte ich bislang an vier Stellen entdecken: In Wismar, auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, in Göttingen und auf dem Engesohder Friedhof in Hannover. Wahrscheinlich gibt es noch weitere, bislang unentdeckte gussgleiche Grabdenkmäler. Die einzige individuelle Note des Tenge-Achilles ist sein Hephaistos-Schild, das wie gesagt auf die wirtschaftliche Grundlage der Familie anspielt. Sonderwünsche waren den finanzstarken Auftraggebern also bis zu einem gewissen Grad möglich.

Die mir bislang bekannten Grabdenkmäler erinnern allesamt an gefallene junge Leutnants. Sie waren ebenso einheitlich wie die militärische Organisation im Kaiserreich. Wahrscheinlich war es auch das Deutsche Heer, das die Hinterbliebenen bei der Wahl ihres Gedenkmonuments beraten hatte.

 


Literatur
Oskar Jürgens, Künstlerische Gestaltung von Soldatengräbern und Erinnerungsmalen für die Opfer des Krieges. Zeitschrift für Bauwesen 1918, 381-397.

Ein herzliches Dankeschön an Prof. Dr. Albrecht Jockenhövel von der Universität Münster für seine Hinweise zum Schwert des Achilles.

 

 

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